Die heutige Jugend: Sie sind hier, sie sind laut – und sie erheben ihre Stimme gegen eine Generation von Alten. Eine Generation, deren Vergangenheit größer ist als deren Zukunft. Und doch treffen jene Alten alle wegweisenden Entscheidungen für die Zukunft. Foto: Haar

Sie sind hier, sie sind laut – und sie erheben ihre Stimme gegen eine Generation von Alten. Eine Generation, deren Vergangenheit größer ist als deren Zukunft. Und doch treffen jene Alten alle wegweisenden Entscheidungen für die Zukunft. Im Lokstoff-Stück „#ichsehedich“ wird Protestkultur zur Kunstform, ein Schauspiel zum politischen Statement.

Stuttgart - Ihre Stimmen stocken manchmal, die Augen flackern. Wer ist es schon gewohnt, so ein Theater zu machen? Sonst sind sie an den Freitagen bei den Demos auf dem Marktplatz, an denen es um ihre Zukunft geht, Hunderte. Jetzt stehen sie plötzlich alleine da und halten selbst geschriebene Monologe. Monologe, die Politikern ins Gedächtnis und ins Gewissen brennen sollen. #fridayforfuture wird bühnenreif, Protestkultur zur Kunstform, ein Schauspiel zum politischen Statement.

Möglich macht es das Ensemble Lokstoff in der zweiten Staffel des Projektes „#ichsehedich – ein Perspektivwechsel“. Die Truppe um die Schauspielerin Kathrin Hildebrand und den Regisseur Wilhelm Schneck gibt 25 Jugendlichen einen weiten Raum und doch professionelle Orientierung, sich und ihre Anliegen eindrucksvoll darzustellen. In den Tiefen des Stuttgarter „Club City Department“ am Hirschbuckel erheben sich die Protagonisten zu authentischen Anklägern gegen eine teilweise ignorante Politikerkaste.

Sie kämpfen für ihre Zukunft

„Wir warten auf Taten“, ruft ein Mitglied des Lokstoff-Jugend-Ensembles in einer Mischung aus Wut und Hoffnung. Denn er und seine Generation haben keine Lust mehr zuzuschauen, wie unter der Maxime des Wachstums die Erde krepiert. Doch so dringlich die Appelle und das Anliegen sind, theatralisch sind sie in den Proben noch nicht perfekt. Schneck ist wenige Tage vor der ausverkauften Premiere an diesem Freitag immer noch unzufrieden. „Ihr müsst das Gefühl aussenden, dass ihr dem Publikum wirklich etwas zu sagen habt, dass euch etwas auf der Seele brennt“, ermahnt er die Jugendlichen streng. Der Rüffel sollte eigentlich überflüssig sein. Schließlich sind die Themen voller Dramatik, voller Emotionen. Soziale Diskriminierung ätzt. Sexismus, Rassismus oder Klimawandel machen Angst. Und die Reaktion mancher Herrschenden darauf macht wütend. So darf das Feindbild Nummer eins, der FDP-Politiker Christian Lindner, beim Prolog des Stückes mit seinem herablassenden Kommentar zu den Friday-for-Future-Demos nicht fehlen: „Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen.“ Das sei vielmehr „eine Sache für Profis“.

Manch einer im Proben-Publikum denkt sich dabei murmelnd: „Wenn die Sache irre wird, dann werden die Irren zu Profis.“ Dabei ist es in diesem Perspektivwechsel von Lokstoff gerade der unverstellte Blick der Jugendlichen, der anregt. Es ist die Naivität der Utopisten, die Veränderungen bewirken. Im Chor antworten sie den Lindners dieser Welt daher lautstark: „Wir müssen nicht 30 sein, um zu sehen, dass es ungerecht ist.“

Ein Satz, der ein versonnenes Lächeln auf Kathrin Hildebrands Gesicht legt. „Es ist etwas Besonderes, mit Jugendlichen zu arbeiten“, sagt sie, „wenn du ihnen Vertrauen schenkst, bekommst du unheimlich viel zurück.“ Es sei Ausdruck einer tiefen Zufriedenheit. Und ein Ansporn, die Sache weiterzuentwickeln. Daher gibt Lokstoff Jugendlichen und ihren Anliegen immer wieder eine Stimme. Sei es bei dem Stück „Revolutionskinder“, das in der Stadtbibliothek aufgeführt wurde, beim Flüchtlings- und Integrationsdrama „Passworte“ oder nun bei „#ichsehedich“.

Lokstoff gibt Jugendlichen eine Stimme

„Wenn man Jugendlichen die entsprechende Technik an die Hand gibt, wie man sich auf der Bühne präsentiert, erwächst daraus eine enorme Kreativität“, erklärt die künstlerische Leiterin Hildebrand, „am Ende kann so ein großer Schatz für die Jugendlichen selbst und damit für die Gesellschaft entstehen.“

Das Ensemble-Mitglied Emely Antonacci (20) bestätigt jede Silbe davon: „Es gibt Kraft.“ Und es sei wunderbar, „Dinge, die uns sehr lange beschäftigen, laut auszusprechen und gehört zu werden“. Auch für Charlotte Rouff (18) sei das eine einzigartige Chance, Menschen auf eine andere Art mit unseren Anliegen zu erreichen. Und im Gegensatz zu den Freitags-Demos hat das Theater einen unschlagbaren Vorteil für Charlotte Rouff: „Hier hören die Leute wirklich zu.“