Im reichen Stuttgart, mitten in einer zivilisierten Stadtgesellschaft, blüht die Zwangsprostitution. Die Stadt sieht den alltäglichen Skandal – wirklich dagegen vorgegangen ist sie bisher nicht.

Stuttgart – Im reichen Stuttgart, mitten in einer zivilisierten Stadtgesellschaft, blüht die Zwangsprostitution. Vier von fünf Frauen, die täglich Sex gegen Bares bieten, stammen aus Osteuropa und bieten ihren Körper nicht freiwillig an: Oft die eigenen Familienangehörigen zwingen die Frauen auf den Strich. Die Stadtverwaltung sieht den alltäglichen Skandal – wirklich dagegen vorgegangen ist sie bisher nicht.

Im Leonhardviertel stehen immer mehr Huren am Straßenrand, immer mehr Freier suchen dort die schnelle Befriedigung. Rund um die Bordellbetriebe breitet sich der Straßenstrich immer weiter aus. Jetzt schlagen Anwohner aus dem Nachbarviertel in einem Protestbrief an OB Fritz Kuhn Alarm: „Das gesamte Bohnenviertel droht zu verkommen.“ Die Statistik bestätigt die Wahrnehmung der Bürger: Delikte verbotener Prostitution, zu der die Anbahnung von Sex auf offener Straße im Rotlichtviertel gehört, sind seit 2009 von rund 30 auf 140 Straftaten pro Jahr hoch geschnellt. Und die Dunkelziffer dürfte weit höher sein.

Verantwortlich für die Situation sind die Zuhälter. Verantwortlich sind die Bordellbetreiber, die von den Prostituierten Zimmermieten von bis zu 140 Euro pro Tag kassieren. Und die im Internet käuflichen Sex bagatellisieren, indem sie so tun, als sei der Ausflug ins Freudenhaus gleichzusetzen mit dem Besuch eines seriösen Wellnessstudios. Verantwortlich sind auch die Freier, die für Sex nur noch Dumpingpreise bezahlen. Opfer sind die Frauen, die den Zuhältern und Freiern ausgeliefert sind. Leidtragende sind aber auch die Bürgerinnen und Bürger: Sie fühlen sich in ihrem Viertel nicht mehr sicher. Sie haben Angst, dass ihre Kinder belästigt werden oder es gar zu Übergriffen kommt. Und sie fürchten, dass Kunden ihre Läden oder Restaurants meiden und ihr Immobilienbesitz an Wert verliert.

Die Stadt ist in der Pflicht, gegen Kriminalität vorzugehen. Doch sie schaut tatenlos zu: Das Prostitutionsgesetz verhindere, gegen die Profiteure vorzugehen, bringen Polizei und Ordnungsbehörden als Entschuldigung vor. Selbst der Versuch der Stadt, zwei illegale Bordelle im Leonhardviertel zu schließen, ging bislang ins Leere. Die Betreiber setzen auf Prozessverzögerung, da jeder Tag Geld in die Kassen spült. Auch wenn die Stadt am Ende obsiegt, ist eine Schließung der Betriebe nicht garantiert: Bei Zuwiderhandlung drohen relativ geringe Geldstrafen. Ohne abschreckende Wirkung – bei Einnahmen von mehreren zehntausend Euro pro Monat.

Rechtlich auf verlorenem Posten, setzt die Stadt jetzt auf Aufklärung der potenziellen Freier. Ende des Jahres soll eine Kampagne starten. Vor allem junge Männer sollen dafür sensibilisiert werden, dass Frauen keine überall und jederzeit verfügbare Ware sind. Ein langfristiger pädagogischer Ansatz. Den Sex-Opfern jetzt hilft das nicht. Für eine Lösung des wachsenden Problems ist es nötig, tabulos zu diskutieren und sich unbequemen Fragen zu stellen. Etwa der, ob Bordelle künftig im gesamten Kernbereich der Innenstadt zulässig sein sollen. Das könnte das traditionelle Rotlichtviertel entlasten, würde aber andernorts Proteste provozieren. Ohne Konflikte aber wird die Stadt aus dieser Nummer nicht rauskommen.

e.funke@stn.zgs.de