Im Mittelpunkt steht die Vision vom Frieden in Europa. Foto: Eibner-Pressefoto/Dimi Drofitsch

Andas Modern Dance Art haben mit dem Stiftshof-Orchester in der Martinskirche in Sindelfingen ihr neues Tanzprojekt vorgestellt.

Der freie Balletttanz wurde bereits um 1900 von Isadora Duncan kreiert. Es dauerte dann bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, bis das moderne Tanztheater mit raumgreifenden Schritten die Bühnen eroberte: Während Oper und Handlungsballett Geschichten erzählen, ist der freie Tanz weitgehend abstrakt, erzählt vor allem von den Zuständen der menschlichen Empfindungen.

Es gibt in der Region kaum einen idealeren Raum als die Martinskirche in Sindelfingen, um solche Tanzprojekte umzusetzen. Jetzt fand die Premiere vom Andas Modern Dance Art in der 939 Jahre alten, romanischen Kirche statt. Das Publikum steht oder sitzt in der leer geräumten Kirchenmitte. Die Tänzerinnen bewegen sich erst im Altarraum und dann vor den Besuchern. Das Stiftshof-Orchester musiziert auf der Orgelempore.

Auch eine Rauminstallation ist zu sehen

Aber Tanz und Musik sind nicht die einzigen künstlerischen Beiträge, die an diesem Wochenende in der Martinskirche präsentiert worden sind, sondern auch eine Rauminstallation, die von Birgit Wilde und Tobias Frey realisiert wurde. In einem imaginären Himmel schweben mehrere 100 Papierknäuel über den Zuschauern und den Tänzerinnen. „Die Idee ist ein stehengebliebener Gedanke“ steht als Motto über dieser Installation; denn Birgit Wilde hatte sich auf Flausensuche begeben - Flausen im Sinne von freien Gedanken, dummen, lustigen Ideen, aber auch Spinnereien.

Aus ihnen können manchmal wissenschaftliche Ideen und künstlerische Produkte entstehen. Die Papierknäuel wurden dann von der Künstlerin mit einer speziellen, von Tobias Fey entwickelten keramischen Lösung überzogen. So entstand ein kooperatives Installationswerk aus Kunst und Wissenschaft, an dem sich über 700 Menschen beteiligten. Die flüchtigen Gedanken haben eine neue Form erhalten. Entstanden sind feinsinnige Keramikgebilde, die einzeln betrachtet zart und geheimnisvoll erscheinen und im Kollektiv Kraft und Zusammenhalt bekunden.

Ein zerknülltes Papier mit fiktiven Ideen

Ein Papier mit fiktiven Ideen, das später ebenso zerknüllt wird, spielt als Symbol im Tanztheater eine Rolle. Dieses Konstrukt freier Emotionen und verschachtelter Gedanken war für die Leiterin der Ballettgruppe, Monika Heber-Knobloch, eine kreative Vorlage. Gemeinsam mit dem Bezirkskantor Daniel Tepper suchte sie sich die komplementären Musiken aus: das Adagio von Tomaso Albinoni, dann die Hymne für Orgel und Streichorchester des belgischen Musikers Joseph Jongen von 1924 und Francis Poulencs relativ häufig gespieltes Konzert für Streicher, Orgel und Pauke.

Die ausschließlich in weißen, armlosen Kleidern gewandeten Tänzerinnen beginnen mit abstrakten Bewegungslinien. „Die Vision vom Frieden – eine Illusion?“ wurde seit 2018 erarbeitet. Die erschütternde Erkenntnis nach vier Jahren ist die Feststellung, dass zumindest hier in Europa der Frieden eine Traumvision ist. Die choreografischen Bewegungen der Tänzerinnen enthalten eine Fülle von Andeutungen und plastischen Realisierungen von Emotionen: Ein erschrockenes Innehalten wie eine fröhliche Extrovertiertheit. Tänzerinnen bewegen ihre Körper langsam oder auch wild, winden sich umeinander oder strecken Arme und Beine in die scheinbar freie Luft. In ihren Beziehungen zueinander bewegen sie sich solistisch getrennt als auch in vertrauten Beziehungsgesten, entweder als Paar oder in der Gruppe. Die Assoziationen, die hier poetisch in Bewegung umgesetzt werden, kennen kaum Grenzen in der Vorstellung. „Très doux et intense“, heißt eine der Vortragsbezeichnung von Poulenc, das gilt auch für manche choreografischen Einfälle.

Hommage an Johann Sebastian Bach

Die Musik von Poulenc ist einerseits eine Hommage an Johann Sebastian Bach, andererseits spielt er mit Stilmitteln, die seine Zeitgenossen oder impressionistischen Vorgänger erfunden haben. Dröhnende Hymnik, tänzerische Grundmuster und klangliche Kontraste werden von den Tänzerinnen kongenial umgesetzt. Speziell die konfliktreichen Klänge finden ihre Widerspiegelung in dem Augenblick, wo die zweite Gruppe von Tänzerinnen den Tanzboden betritt. Drei schwarz gekleidete Gestalten strahlen Aggressivität einer negativen Schicksalsentwicklung aus.

Es entspannt sich ein optisch außerordentlich vitales Miteinander, aber vor allem Gegeneinander der unterschiedlichsten Seelenlagen. Die Bandbreite reicht von scheinbaren Annäherungen bis hin zu realen Distanzierungen. Mit dem wirkungsvollen Ende der Musik bleibt die Frage nach einem Ende gestisch offen. So wie wir auch zurzeit in einer Situation leben, in der keiner weiß, wohin sie sich entwickeln wird.

Es gibt eine Hymne neu zu entdecken

Eine musikalische Neuentdeckung ist die Hymne von Joseph Jongen. Zwischen der träumerischen Barockmusik und dem aufgewühlten Poulenc-Konzert verkörpert es suggestive Klangfarbenwelten. Nicht nur die Tanzgruppe zeigte sich äußerst kreativ, auch das Stiftshof-Orchester, verstärkt durch den Organisten Julian Heinz und den Pauker Janick Scholl, präsentierte sich in überzeugender Form. Die Streicher glänzten durch präzises Zusammenspiel und klangliche Homogenität. Zur eindringlichen Wirkung trugen auch Andrea Legler (Kostüme, Requisiten) und Christian Ländner (Lichtdesign) bei.

Es ist erneut eine großartige Produktion von Monika Heber-Knobloch. Sie ist, was Tanztheater angeht, eine Institution im Kreis Böblingen. Sie begann 1982, nachdem ihr Lebensweg sie aus dem Allgäu in die Region geführt hatte, an der VHS, wechselte 1992 an die Böblinger Musikschule und arbeitet seit 2002 an der Sindelfinger Musikschule. Die letzten beiden Aufführungen dieser Produktion finden am Sonntag, 30.Oktober, 16 und 18 Uhr statt; sie dauern jeweils eine knappe Stunde.