Nichts bleibt dem Zufall überlassen: Hitoshi Kuriyama (links) bei der Arbeit in der Stiftskirche. Jobst Kraus assistiert ihm. Foto: Horst Rudel

Der japanische Künstler Hitoshi Kuriyama installiert zurzeit im Rahmen eines Projektes der Kulturregion seine Lichtskulptur „0 = 1 – fluctuation“ in dem mittelalterlichen Gotteshaus in Bad Boll. Das Werk besteht aus 400 einzelnen Glaselementen.

Bad Boll - Wie er seine Hände hebt und Jobst Kraus oben auf dem Gerüst leise Anweisungen gibt, wirkt Hitoshi Kuriyama wie ein Dirigent. Doch sein Einsatz gilt keinem Orchester, er dirigiert einen noch flüchtigeren Stoff als Töne: das Licht. Hitoshi Kuriyama aus dem japanischen Tokio ist einer der Künstler, die am Lichtkunstfestival der Kulturregion Stuttgart teilnehmen. Zurzeit baut er seine Lichtinstallation „0 = 1 - fluctuation“ in der Stiftskirche in Bad Boll auf, eine von 25 Kommunen, die sich an diesem Projekt beteiligen. Täglich klettert Hitoshi Kuriyama an die 100 Male auf das fahrbare Gerüst, das hinter dem Taufstein aufgestellt ist. Damit er das nicht noch öfter tun muss, hat sich Jobst Kraus, ehemaliger Studienleiter an der Evangelischen Akademie, als Helfer zur Verfügung gestellt.

Riesiger Kristall vor der Apsis

Zwischen den Arkaden der mittelalterlichen Kirche hängen Kabelstränge von der Decke herab. An einigen von ihnen sind bereits filigrane Glasröhren befestigt. 400 dieser Elemente sollen es am Ende sein – 60 von ihnen werden leuchten, in den übrigen 340, die aus zerbrochenem Glas bestehen, wird sich das Licht nur brechen. Hitoshi Kuriyama arrangiert diese Glaselemente, die per Luftfracht von Tokio nach Bad Boll gebracht wurden, zu einer Art Cluster, zu einem riesigen Kristall, der stiebende Funken sprüht. Vom nächsten Wochenende an soll das Kunstwerk mit einem Durchmesser von 3,5 Metern drei Wochen lang vor der Apsis der Stiftskirche erstrahlen. Ähnliche Installationen hat Hitoshi Kuriyama schon an anderen Orten gezeigt, aber noch nie in dieser Größe und auch noch nie in einer Kirche, sagt er.

Hitoshi Kuriyama lehrt an der Universität Tokio und ist nicht nur in seiner Heimat ein bekannter Künstler. Er stellte auch schon in Venedig und London seine Lichtinstallationen aus. Beeindruckend sind die Konzentration und Präzision des 37-Jährigen. Er weiß genau, wie er das Chaos aus Kabeln und Glasröhren bändigt. Sobald er eine der Tuben befestigt hat, klettert er vom Gerüst herab und betrachtet kritisch aus der Ferne, ob sich alles zu der gewünschten künstlerischen Aussage verdichtet. Als Orientierung dient ihm eine Skizze. Sklavisch hält er sich aber nicht an seine Aufzeichnungen. Er hat intuitiv die besondere Kraft dieses sakralen Ortes erfasst. Dieser „holy place“, wie er sagt, sei eine Quelle der Inspiration. Kleinere Abweichungen könne es deshalb schon geben.

In Tokio sieht man nie die Sterne

„I love this place“, sagt Hitoshi Kuriyama und zeigt auf die Steine, aus denen die Arkaden des Kirchenschiffs gefertigt sind. Mit einfachsten Werkzeugen seien sie einst behauen worden. Er empfinde es als Ehre, hier seine Installation zeigen zu dürfen. Der Künstler besucht Deutschland zum ersten Mal. Als er von Bad Boll hörte, suchte er den Ort, der das absolute Kontrastprogramm zur Metropole Tokio ist, auf einer Karte. Vergeblich. Mittlerweile ist das Dorf am Fuß der schwäbischen Alb zu einem Begriff für ihn geworden. Zum Schwärmen bringt ihn der Sternenhimmel über Bad Boll. In Tokio sei es so hell, dass man nie einen Stern sehe, erzählt Kuriyama.

Als neugierig und offen beschreibt Dorothee Kraus-Prause den Gast aus Fernost. Die Bad Boller Gemeinderätin, die auch im Vorstand der Kulturregion Stuttgart sitzt, und ihre Familie haben Hitoshi Kuriyama nicht nur Bad Boll und die nahe Umgebung gezeigt. Sie haben ihm, obgleich sie selbst keine Schwaben sind, auch schwäbische Spezialitäten wie Spätzle und Maultaschen serviert. Dorothee Kraus-Prause findet es schön, dass auch kleine Kommunen von der Kulturregion berücksichtigt werden. Bad Boll sogar gleich zweimal. Denn auch die Stufen hoch zum Tempele werden illuminiert. Mit einem Kunstwerk des Schweizer Künstlers André Bless.

Gespräche mit Lichtkünstlern und Jazzimprovisationen

Das Projekt „Aufstiege“ der Kulturregion Stuttgart dauert vom 17. September bis zum 9. Oktober. In dieser Zeit kann man nach Anbruch der Dunkelheit an öffentlichen Plätzen Lichtkunstwerke entdecken. Der künstlerische Leiter ist der Lichtkünstler Joachim Fleischer. Er hat Kunstschaffende aus zehn Nationen eingeladen, sich von Aufstiegen in der Region inspirieren zu lassen.

An dem Festival beteiligen sich 43 Künstler. Sie zeigen in 25 Kommunen ihre Lichtinstallationen. Im Kreis Göppingen sind vier Lichtkunstwerke zu sehen, zwei in Göppingen und zwei in Bad Boll.

„Infinity Device“ lautet der Titel der Lichtinstallation von Yumi Kori im Schlosswäldchen. Die japanische Künstlerin will mit ihrem Werk die Wahrnehmung des existierenden Raums von eingeübten Ordnungs- und Bedeutungsfeldern befreien und für neue Perspektiven und Erfahrungen öffnen. Für die Haupthalle des Bahnhofs und den Büroturm der Kreissparkasse vis-à-vis hat der französische Künstler Michel Verjux eine Installation mit Halbkreisen aus Licht entworfen. Beide Künstler sind bei der Erstbegehung am Samstag anwesend. Im Gespräch mit Werner Meyer, dem Leiter der Kunsthalle, erläutern sie ihre Arbeiten. Treffpunkt ist um 20 Uhr hinter dem Schloss. Tags darauf findet um 15 Uhr in der Kunsthalle ein Interview mit Yumi Kori statt. Am Montag ist um 19 Uhr am selben Ort ein Gespräch mit Michel Verjux geplant.

Die Installation „Stepnotes“ des Schweizer Künstlers André Bless am Bad Boller Tempele wird am Samstag, 17. September, um 20 Uhr eröffnet. Um 21.30 Uhr findet das Opening von Hitoshi Kuriyamas Lichtkunst in der Stiftskirche statt. Beide Künstler sind anwesend. Am Freitag, 23. September, bittet Albrecht Esche um 19 Uhr zu einem literarischen Spaziergang zum Tempele. Treffpunkt ist die Evangelische Akademie. Jazz-Improvisationen im Dialog mit den beiden Kunstwerken sind dann am Samstag, 24. September, zu hören und zwar um 11 Uhr in der Stiftskirche und um 17 Uhr am Tempele. Es musizieren Mitwirkende einer Jazz-Tagung, die an der Akademie stattfindet.