Die Gasspeicher in Deutschland sollen bis November zu 90 Prozent gefüllt sein. Foto: //Frank Hoermann

Fast 13 Prozent Wertschöpfungsverlust und 5,6 Millionen davon beeinträchtigte Jobs: Das droht der deutschen Wirtschaft, falls Russland von Juli an den Gashahn ganz zudreht, warnt eine Studie. Wird die Abhängigkeit unterschätzt?

Michael Böhmer verwahrt sich dagegen, Apokalyptiker zu sein. „Wir sind überzeugt, einer möglichen Realität sehr nahe zu kommen“, sagt der Chefvolkswirt des Baseler Analysehauses Prognos. Das hat im Auftrag der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft eine Studie zu Folgen eines Komplettlieferstopps russischen Gases für Deutschland berechnet. „Die Abhängigkeit vom russischen Gas ist bislang dramatisch unterschätzt worden“, bilanziert Böhmer.

Rückgang der Wirtschaftsleistung um 12,7 Prozent

Berechnet hat Prognos die Auswirkungen eines Lieferstopps für das zweite Halbjahr 2022. In dem Zeitraum würde die deutsche Wirtschaftsleistung um 12,7 Prozent sinken. 193 Milliarden Euro Wertschöpfungsverlust bedeutet das. Bisherige Studien hätten vergleichbar ein Minus von maximal acht Prozent berechnet, sagt Böhmer.

Der große Unterschied zu anderen Studien ist vor allem der Betrachtung technischer Realitäten geschuldet. „Wir haben detailliert die Ebene der Produktionsprozesse analysiert und nicht wie andere Studien nur branchenspezifische Durchschnittswerte verwendet“, sagt Böhmer. Er erklärt das an einem Beispiel aus der Stahlindustrie. Die brauche prozentual eher wenig Gas, sei aber etwa bei Walzwerken abhängig davon. Ohne Gas würde die Produktionskette in der Stahlindustrie an dieser Stelle abrupt reißen.

Wird die Nord Stream 1 nach der Wartung wieder anlaufen?

Auch die Annahme, dass der russische Gasfluss im Juli versiegt, ist nicht willkürlich. Die Gaspipeline Nord Stream 1 wird von Mitte Juli an zu Wartungszwecken abgeschaltet. Ob sie danach wieder anläuft, bezweifeln Experten und Politiker. Kommt es zum Gasstopp, würde ungeschützten Kunden wie der Industrie von heute auf morgen gut die Hälfte des benötigten Gases fehlen, hat Prognos berechnet.

Geschützten Kunden, zu denen private Haushalte oder Krankenhäuser zählen, würden laut Prognos sieben Prozent fehlen. Bei der Berechnung ging das Analysehaus davon aus, dass ein Viertel des bisherigen Gasverbrauchs eingespart oder ersetzt werden kann. Das sei ein optimistischer Wert, meint Böhmer. Prognos nimmt ferner an, dass deutsche Gasspeicher bis November, wie gesetzlich verlangt, zu 90 Prozent gefüllt werden und nachgelagerte Effekte in der Wirtschaft zu 60 bis 90 Prozent aufgefangen werden können.

„Kein Extremszenario berechnet“

Letzteres erklärt Böhmer am Beispiel der chemischen Industrie, die im Falle eines Gaslieferstopps Lacke für die Autoindustrie nur in geringerem Umfang liefern könnte. Prognos unterstellt, dass Autobauer kurzfristig bis zu 90 Prozent der benötigten Lacke über alternative Quellen besorgen könnten, was Böhmer ebenfalls optimistisch nennt. Bei der Nutzung von Flüssiggas über Terminals aus den Niederlanden oder Belgien und transeuropäische Gasnetze sei Prognos eher pessimistisch gewesen. „Wir wollten kein Extremszenario rechnen“, erklärt Böhmer. Deshalb habe man einen durchschnittlichen Winter 2022/23 unterstellt. „Man kann sich alles noch schlimmer ausmalen“, sagt er.

Der Notstand hätte auch Auswirkungen auf die Beschäftigung. Im beschriebenen Szenario wären in Deutschland 5,6 Millionen Arbeitsplätze betroffen, zunächst wohl von Kurzarbeit. „In zwölf bis 15 Branchen spielt Gas eine größere Rolle“, sagt Böhmer. Dazu zählten die Industrien Chemie, Glas, Stahl oder Lebensmittelverarbeitung, anhand der Lieferkette aber auch die Autoindustrie und der Dienstleistungssektor. Eine tiefe Rezession in Deutschland wäre fraglos die Folge.

Je länger das russische Gas weiter läuft, umso besser

„Das Ganze ist ein Szenario und keine Prognose“, stellt Böhmer klar. Klar sei auch, dass mit dem Jahresende 2022 ein Gasnotstand nicht enden würde. Für die Zeit danach habe Prognos keine Berechnungen angestellt. Die Effekte würden abnehmen, weil russisches Gas zunehmend ersetzt werden könne. Die Aussichten würden daher besser, je länger der Lieferstopp von russischem Gas auf sich warten lassen würde.