Der Rettungsdienst fährt in Baden-Württemberg vielerorts im roten Bereich – doch echte Verbesserungen lassen auf sich warten. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Der Rettungsdienst im Land krankt. Opposition und Experten setzen die Regierung unter Druck – und können dabei ein besonderes Dokument ins Feld führen.

Stuttgart - Die Notfallrettung in Baden-Württemberg kränkelt und die Debatte darum spitzt sich zu. Wenige Tage nach einer kontroversen Diskussion im Landtag haben Rettungsdienstexperten nachgelegt. Angesichts von Personalmangel, ausfallenden Schichten, langen Wartezeiten bei Krankentransporten, unterbesetzten Leitstellen und häufigem Nichteinhalten der gesetzlich vorgeschriebenen Eintreffzeiten am Einsatzort schlagen sie Alarm. In einem offenen Brief bitten sie Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), das Thema zur Chefsache zu machen.

„Manches im Land hat sich verbessert, vieles mehr aber dramatisch verschlechtert“, heißt es in dem Schreiben, für das die Bürgerinitiative Rettungsdienst sowie das Forum Notfallrettung aus Stuttgart und Tübingen verantwortlich zeichnen. Zwar würden die Probleme auf vielen Ebenen diskutiert, es fehle aber an einer Umsetzung. „Die Mängelliste ist lang, aber vor allen Dingen ist sie den Verantwortlichen bekannt“, schreiben die Verfasser.

Die Forderungen sind eindeutig – es geht um eine grundlegende Reform der Notfallrettung im Land. „Die Leitstellen müssen in eine öffentlich-rechtliche Trägerschaft überführt werden, damit sich die Rettungsorganisationen nicht selbst überwachen“, sagt Joachim Spohn von der Bürgerinitiative Rettungsdienst. In diesem Zuge müsse man auch die Zahl verringern. Dafür brauche man ein Leitstellengesetz. Aus einer Lenkungsgruppe im Innenministerium kämen leider keine vielversprechenden Signale. Außerdem fordern die Experten eine medizinische Fachaufsicht, die es bundesweit nur in Baden-Württemberg nicht gebe. Die öffentliche Hand müsse transparente, ungeschönte Daten bekommen und sämtliche Vorgaben, Planungen und Kontrolle übernehmen. Bisher wird in jedem der 34 Rettungsdienstbereiche des Landes zwischen Krankenkassen und Hilfsorganisationen die Ausstattung nichtöffentlich verhandelt.

Nur die wenigsten Regionen halten das Gesetz ein

Ganz ähnliche Töne waren vergangene Woche bereits im Landtag zu hören. In einer Debatte über den Rettungsdienst kritisierten FDP, AfD und in Teilen auch SPD die Situation. Der FDP-Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Rülke kritisierte, die Landesregierung vernachlässige ihre Aufsichtspflicht. Innenminister Thomas Strobl (CDU) betonte, einige Verbesserungen seien angestoßen, insgesamt sei der Rettungsdienst aber gut aufgestellt: „Wenn ein Bürger in unserem Bundesland Hilfe bedarf, ist im Mittel spätestens rund sieben Minuten nach der Alarmierung ein Rettungsdienst bei ihm“, so Strobl.

Allerdings gibt es im Gesetz keine Mittelwerte. Stattdessen findet sich dort eine Vorgabe, dass 95 Prozent der Einsätze in höchstens 15 Minuten erfolgen müssen. Und da herrscht im Land ein ganz anderes Bild: Die Latte wird seit Jahren gleich reihenweise gerissen. 2016 haben von den 34 Rettungsdienstbereichen die Vorgabe nur acht erfüllt – bei den Notärzten sogar nur zwei. Für 2017 gibt es noch keine Werte. Angesichts ständig wachsender Einsatzzahlen dürfte aber keine grundlegende Wende zu erwarten sein.

Grüne halten sich als Regierungspartei plötzlich zurück

Von den Grünen hört man in dieser Debatte auffallend wenig. Dabei war das nicht immer so. Den Bürgerinitiativen liegt ein Schreiben von Bärbl Mielich vor. Es stammt aus dem Dezember 2010. Damals war die heutige Staatssekretärin noch gesundheitspolitische Sprecherin der oppositionellen Grünen. Sie bestätigt darin die zentralen Thesen der Fachleute. „Die Defizite sind uns bekannt und geben auch uns Anlass zur Sorge und Kritik“, heißt es darin. Man wolle im Rettungsdienst einen „grundsätzlichen Strukturwandel durchsetzen“. Es folgt eine Aufzählung der Kernforderungen: Reduzierung der Zahl der Leitstellen, Überführung in eine öffentlich-rechtliche Trägerschaft, Schaffung eines Ärztlichen Leiters Rettungsdienst als Fachaufsicht. Praktisch eins zu eins die Forderungen vieler Fachleute. Man werde sich „in der nächsten Legislaturperiode“ für eine gesetzliche Neuregelung einsetzen – und man freue sich auf einen weiteren Gedankenaustausch.

Nur wenige Monate später wurden die Grünen an die Regierung gewählt. Leider habe man seither von diesen Forderungen nichts mehr gehört, sagt Tjark Neinhardt vom Forum Notfallrettung Stuttgart. Und: „Zudem ist es sehr schwierig, überhaupt mit der Politik ins Gespräch über den Rettungsdienst zu kommen. Dem fehlt offenbar die Lobby.“ Dabei gehe es um Menschenleben, nicht um Statistiken. „Wir hoffen deshalb sehr, dass die Landesregierung das Thema jetzt zu ihrem macht. Die Probleme sind bekannt. Es muss sie nur jemand anpacken.“