Vanessa Lahrs und Artur Andrzejczuk sind hart im Nehmen. Foto: factum/Granville

Für Rettungskräfte wird der Dienst immer schwieriger. Nur jeder zweite Notruf sei ein echter Notfall, beklagen die Sanitäter. Zunehmend reagieren bei Unfällen auch Angehörige oder Unbeteiligte aggressiv auf die Retter.

Sindelfingen - Bundesweit machte der Fall Schlagzeilen: Als Ende des vergangenen Jahres Rettungskräfte einen kleinen bewusstlosen Jungen in einem Kindergarten versorgen wollen, werden sie von einem verärgerten Autofahrer attackiert. Dieser sieht sich durch das parkende Rettungsfahrzeug am Wegfahren gehindert. So geschehen in Berlin, und kein Einzelfall.

„Tätliche Angriffe kommen auch bei uns in der Region Stuttgart vor, aber zum Glück bisher nur selten“, sagt Artur Andrzejczuk, Rettungssanitäter beim Kreisverband des Deutschen Roten Kreuz. Das mag auch am Erscheinungsbild des 36-Jährigen liegen, ein Mann, der Respekt einflößt: muskelbepackte Arme, die vom regelmäßigen Krafttraining zeugen, den Unterarm ziert ein großes Tattoo. Seine Statur hilft dem 36-Jährigen vermutlich bei brenzligen Einsätzen. Und davon hat er schon einige erlebt. Seit 15 Jahren ist er dabei, früher in Esslingen, jetzt in Böblingen – und noch immer mit Leidenschaft. Doch immer schwieriger würden die Kunden, sagt er.

Der Sanitäter mit Bodybuilderfigur wurde schon viermal angegriffen

Trotz seiner Bodybuilding-Figur wurde auch Andrzejczuk schon viermal bei Einsätzen körperlich angegangen. „Die Angreifer hatten dabei keine Chance“, sagt der Sanitäter. Als wesentlich unangenehmer erlebt er die verbalen Attacken. „Die haben stark zugenommen in den vergangenen Jahren“, sagt er.

Viele Angehörige von kranken oder verletzten Menschen bezweifelten die Kompetenz der Retter, klagt Gerhard Fuchs, der Chef des DRK-Rettungsdienstzentrums auf dem Flugfeld zwischen Böblingen und Sindelfingen. „Wir haben alle eine sehr qualifizierte Ausbildung. Doch viele sehen uns als Dienstleister, als eine Art Chauffeure.“

„Warum steht ihr hier rum. Fahrt gefälligst ins Krankenhaus“, gehört noch zu den höflichen Formulierungen, mit denen die Helfer attackiert werden, wenn sie sich um einen Verletzten kümmern. „Manche stellen sich aufs Trittbrett, stecken den Kopf in den Wagen und krakeelen herum“, berichtet der Chef. Das größte Ärgernis aber sei der Missbrauch des Notrufs, der in den vergangenen Jahren stark zugenommen habe. „Da ruft man uns, wenn sich einer in den Finger geschnitten hat oder bereits seit drei Tagen Bauchschmerzen hat, aber nicht zum Arzt wollte.“ Die Disponenten der Rettungsleitstelle, bei denen alle Anrufe eingehen, müssten in Sekundenschnelle entscheiden, ob sie einen Rettungswagen losschicken. Und im Zweifelsfall gelte: lieber einmal zu oft als einmal zu wenig. „Nur etwa jeder zweite ist ein echter Notfall.“

Immer mehr Einsätze bedeutet, dass die Kapazitäten der Rettungszentren nicht mehr ausreichen. Das Rote Kreuz im Kreis Böblingen hat deshalb in den vergangenen Jahren seine Truppe stark aufgerüstet. „Wir haben unsere Fahrzeugflotte erweitert. Doch dafür brauchen wir auch das Personal. Und das zu finden, wird immer schwieriger.“ Die Folge: Artur Andrzejczuk und seine Kollegen schieben riesige Überstundenberge vor sich her, die sie kaum ausgleichen können. Die Belastung seiner Leute im Job sei groß, sagt DRK-Chef Fuchs. „Wir wissen nie, was uns beim nächsten Einsatz erwartet“, berichtet Vanessa Lahrs, im zweiten Jahr der Ausbildung zur Notfallsanitäterin. Als besonders belastend empfindet die 21-Jährige schlimme Unfälle und Einsätze, bei denen es um schwerkranke oder verletze Kinder geht. Egal was passiert, immer ruhig bleiben, lautet dann das Motto der Retter. Auch dann, wenn Gaffer ihr Smartphone zücken, um das Unglück live festzuhalten.

Rücksichtslose Autofahrer

Als rücksichtslos empfindet Fuchs auch viele Autofahrer. „Wir wollen spätestens 15 Minuten nach einem Anruf bei einem Kranken oder Verunglückten sein. Doch im Dauerstau kommen wir dabei häufig nicht durch.“ Nicht präsent sei vielen, dass sie im Stau eine Rettungsgasse bilden müssen. „Selbst, wenn ich mit Blaulicht vorausfahre, werde ich von Fahrern beschimpft“, berichtet Fuchs. Andere würden sich mit ihrem Auto einfach an den Rettungswagen hängen, um schneller voranzukommen. Und dabei Unfälle provozieren.

Fuchs selbst steht fast täglich im Stau auf der Autobahn, wenn er zur Arbeit fährt. Er hat deshalb Verständnis für den Unmut vieler Menschen. Doch er gibt zu bedenken: „Bei unseren Einsätzen geht es häufig um Menschenleben.“ Und schon morgen könnte der rücksichtslose Autofahrer oder Gaffer in Not sein – und auf die schnelle Hilfe der Retter warten.