Rektor Karl-Heinz Weeber muss seine Hauptschule im Sommer schließen Foto: StN

Viele Dörfer in Baden-Württemberg leiden darunter, dass immer mehr Menschen in die Städte ziehen. Die Stuttgarter Nachrichten befassen sich intensiv mit der Entwicklung des ländlichen Raums und nehmen einzelne Problemfelder unter die Lupe. Heute: Bildung.

Viele Dörfer in Baden-Württemberg leiden darunter, dass immer mehr Menschen in die Städte ziehen. Die Stuttgarter Nachrichten befassen sich intensiv mit der Entwicklung des ländlichen Raums und nehmen einzelne Problemfelder unter die Lupe. Heute: Bildung.

Stuttgart/Neudenau - Für Karl-Heinz Weeber geht ein Teil seines Lebenswerks zu Ende. Nach den Sommerferien wird es an seiner Schule keine Hauptschüler mehr geben. Seit 1999 ist Weeber Rektor an der Kurmainz-Schule in Neudenau (Landkreis Heilbronn). Erst vor wenigen Jahren hat die Grund- und Hauptschule einen teuren Anbau bekommen. „Unsere Hauptschule schließt, obwohl wir hier immer gute Arbeit geleistet haben“, sagt er. „Im Schnitt haben pro Jahrgang nur rund zehn Prozent unserer Schüler nach dem Abschluss ein Berufsvorbereitendes Jahr gemacht, weil sie noch nirgends untergekommen sind.“

So wie Weeber geht es derzeit vielen Schulleitern an öffentlichen Haupt- und Werkrealschulen. In den vergangenen fünf Jahren ist die Zahl der Schulen von 1176 auf 823 gesunken. Die Bildungsgewerkschaft GEW geht davon aus, dass sich das Tempo bei den Schulschließungen im kommenden Jahr wegen einer Gesetzesänderung erhöhen wird. Betroffen sind vor allem die Schulen im sogenannten ländlichen Raum.

In Baden-Württemberg gelten zwei Drittel der Fläche als ländlich geprägt. Dort leben 3,65 Millionen Menschen, also rund ein Drittel der Bevölkerung Baden-Württembergs. Experten kritisieren die langen Wege zu den Hochschulen.

Den Landtagsabgeordneten Bernd Hitzler (CDU) stört die Entwicklung bei den Schulen: „Wenn das Land weniger Schulen hat, muss es weniger Geld ausgeben“, sagt er. „Das geht zulasten des ländlichen Raums und ist am falschen Ende gespart.“

Bis 2020 sollen 11 600 Lehrerstellen eingespart werden

Bis 2020 will die Landesregierung insgesamt 11 600 der rund 95 000 Lehrerstellen einsparen. Und doch sind die Schulschließungen kein reines Sparprogramm. „Das Land kann bei rückläufigen Schülerzahlen nicht in jedem Dorf eine Hauptschule vorhalten“, sagt etwa Angela Keppel-Allgaier, Schulleiterin in Reutlingen und GEW-Bezirksvorsitzende in Südwürttemberg.

Die Schullandschaft verändert sich angesichts des Geburtenrückgangs zwangsläufig. Derzeit besuchen noch mehr als eine Million Schüler eine allgemeinbildende öffentliche Schule, 357 300 eine berufliche Schule.

In den nächsten Jahren werden es deutlich weniger werden. Nach Vorausrechnungen des Statistischen Landesamts sinkt die Zahl der Schüler zwischen 2010 und 2020 um 25 Prozent. Die Hauptschulen kämpfen auch aus einem anderen Grund um jeden der Schüler. Immer weniger Eltern halten die Hauptschule für den richtigen Lernort – und seit 2012 können sie selbst entscheiden, auf welche weiterführende Schule sie ihr Kind schicken. Auch aus diesem Grund sind die Schülerzahlen bei Rektor Weeber in Neudenau immer weiter gesunken.

Gingen 2007/2008 noch 120 Kinder auf seine Hauptschule, waren es 2012/2013 nur noch 40. Inzwischen gibt es auf der Kurmainz-Schule nur noch zehn Hauptschüler, die dieses Jahr ihren Abschluss machen.

„In den kommenden Jahren wird sich das Tempo bei den Schulschließungen erhöhen“, sagt Matthias Schneider, Geschäftsführer bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Baden-Württemberg. „Denn vom kommenden Schuljahr an gilt das neue Gesetz, wonach Schulen geschlossen werden müssen, wenn in den Eingangsklassen zweimal hintereinander die Mindestschülerzahl von 16 unterschritten wird.“

Die GEW geht von 11 000 betroffenen Lehrern aus – vor allem auf dem Land. Schneider fordert von der Regierung bessere Perspektiven für Hauptschullehrer, die dann an andere Schulen wechseln müssen. „Es sollte zum Beispiel möglich sein, dass die Hauptschullehrer durch eine Weiterqualifizierung nicht nur an Realschulen unterrichten dürfen, sondern auch bei der Gehaltsklasse von A 12 in A 13 aufsteigen.“ Der Unterschied zwischen beiden Gehaltsklassen liege bei rund 300 Euro im Monat.

Hauptschullehrer können an Realschulen unterrichten, bekommen aber weniger

„Die Schulverwaltung sucht einvernehmlich mit den Betroffenen nach einer Lösung“, sagte ein Sprecher des baden-württembergischen Kultusministeriums. „Das Kultusministerium will dieser schwierigen Situation für jeden Einzelnen dadurch Rechnung tragen, dass es flexible Lösungen ermöglicht.“ Eine Weiterqualifizierung zur Realschullehrkraft bestünde derzeit nicht. Das Kultusministerium will die regionale Schulentwicklung eben gerade nicht als Schulschließungsprogramm verstanden wissen. Es gehe darum, dass auch künftig jeder in zumutbarer Entfernung jeden Bildungsabschluss erreichen kann, sagt ein Sprecher. Was zumutbar ist, wird allerdings nicht definiert.

Bernd Hitzler kritisiert die „starren Vorgaben“ des neuen Gesetzes: „Sinnvoller wäre es gewesen, wenn erst nach etwa fünf Jahren die Schließung drohen würde“, sagt er. Nach Ansicht der GEW sind von den aktuell noch 823 öffentlichen Haupt- und Werkrealschulen fast 300 gefährdet. „Viele weitere Schulen werden zum nächsten Schuljahr in die Gefährdungszone rutschen“, sagt Schneider. Bei 184 der 823 Haupt- und Werkrealschulen liegt die Schülerzahl in Klassenstufe fünf unter 16 Schülern (Mindestschülerzahl). 235 haben keine fünfte Klasse mehr, davon werden 123 zur Gemeinschaftsschule. Zu einer Gemeinschaftsschule kann theoretisch jede weiterführende Schulart werden – also zu einer Schule, in der Schüler mit unterschiedlichem Leistungsniveau zusammen lernen und je nach Erfolg und Motivation Hauptschulabschluss, mittlere Reife oder Abitur machen können. Bedingung ist, dass in den Eingangsklassen mindestens 40 Schüler sind.

„Klar ist, dass die Schulen im ländlichen Raum besondere Schwierigkeiten haben werden, die Mindestschülerzahl zu erreichen“, sagt Angela Keppel-Allgaier. „Hier müssen die Bürgermeister jetzt von ihrem hohen Ross herabsteigen und nicht auf Teufel komme raus versuchen, die Schule in ihrem Ort zu halten.“

Stattdessen sollten sie das Wohl der Region im Auge behalten und zusammen mit anderen Kommunen über eine vernünftige Lösung – wie etwa die Gründung einer Gemeinschaftsschule – nachdenken.

Experten fordern, dass die Erreichbarkeit von Schulen verbessert wird

Richard Junesch vom Institut für Raumordnung und Entwicklungsplanung hält die negativen Auswirkungen des Schulsterbens im ländlichen Raum für überschaubar – unter einer Bedingung: „Eine gute Versorgung kann man im ländlichen Raum erreichen, indem man entweder die Dichte von Einrichtungen erhöht oder ihre Erreichbarkeit verbessert“, sagt er. Junesch ist Mitautor einer Studie, die die Probleme des ländlichen Raums im Land untersucht. Die Autoren sehen ein Problem in der Erreichbarkeit von Hochschulen. „Wegen der Konzentration der Hochschulen auf die Städte im Land sind die Menschen gezwungen, den ländlichen Raum zu verlassen“, sagt Junesch.

Die Studie kommt zu dem Schluss: Die vergleichsweise geringe Zahl an Studienangeboten stellt ein eindeutiges Defizit des ländlichen Raums dar, das durch seine charakteristischen Standortvorteile wie Naturnähe oder attraktive Wohnverhältnisse nicht zu kompensieren ist.

Eine kausale Verknüpfung von Abwanderungen nur mit dem Aspekt Hochschulstandorte dürfte deutlich verkürzt sein, sagt dagegen ein Sprecher des Kultusministeriums. Das Land unternehme seit Jahren erhebliche Anstrengungen zur Weiterentwicklung und Stärkung des Hochschulangebots auch im ländlichen Raum.

Karl-Heinz Weeber hat sich inzwischen mit dem Aus der Hauptschule abgefunden. Die Grundschule bleibt und wird zu einer Ganztagsschule umgewandelt. Damit macht die Kurmainz-Schule den Grundschulen in der Region Konkurrenz. Für diese aber gelten keine Mindestschülerzahlen.