Die Hirten und Engel haben sich vor der Krippe in der Stadtkirche Bad Cannstatt versammelt. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Darsteller, Musiker, Chor und Sänger: 180 Kinder und Erwachsene führen Bachs Weihnachtsoratorium in der Stadtkirche Bad Cannstatt auf. Das Besondere: Rund 30 von 100 Kindern sind geistig behindert. Das macht das Projekt einmalig in der Region Stuttgart.

Stuttgart - Auf leichten Füßen läuft die Schar der kleinen Engel zur Krippe in der evangelischen Stadtkirche in Bad Cannstatt. Behinderte und nicht behinderte Kinder halten sich an den Händen. In ihrer freien Hand leuchtet eine Taschenlampe. Die Hirten sitzen bereits vor der Krippe. Maria wiegt selbstvergessen ihr Jesuskind und hat für nichts anderes Augen. Josef guckt dagegen, wer noch kommt, um an dem jungen Familienglück Anteil zunehmen. Als das „Freut Euch, frohlocket“ des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach ertönt, strahlen die Kinder.

Der Kassettenrekorder wird gegen ein Orchester getauscht

„Bei der Probe kommt die Musik aus dem Kassettenrekorder. Aber bei der Aufführung am Samstag vor Weihnachten spielt der Bachchor Stuttgart, und es singen vier Solisten sowie der Chor der Helene-Schoettle Schule“, sagt Ulrike Hahn. Sie ist Lehrerin an der Schule für geistig behinderte Kinder. Das Kinderkonzert mit Krippenspiel hat sie zusammen mit ihrem Mann, dem Kirchenkreiskantor Jörg-Hannes, entwickelt. Aufgeführt wird das Musikerlebnis für Groß und Klein bereits zum fünften Mal.

Mittlerweile sind die Christrosenkinder auf dem Weg zur Krippe. Ihre Rollen hat Hahn geschaffen, damit alle mitspielen können. Amelie trägt einen rosa Tüllumhang. „Rosa gefällt mir nicht. Ich hätte viel lieber Blau“, sagt die Achtjährige. Und Engel Emma wäre lieber ein Christrosenkind, um bei ihrer Freundin Amelie zu sein. Trotzdem finden sie sich in ihre Rollen ein. Text muss niemand lernen. Die Figuren werden durch Gesten und Bewegung verkörpert. Dadurch können die Behinderten gut mithalten.

Inklusion gibt es in Stuttgart bereits seit fünf Jahren

Die Darsteller sind zwischen 8 und 16. Außer den Schülern der Helene-Schoettle-Schule machen Kinder von der Neugereuter Jörg-Ratgeb-, der Grundschule Heumaden sowie der Schillerschule in Bad Cannstattmit. An der Jörg-Ratgeb-Schule werden Sechstklässler der Helene -Schoettle Schule unterrichtet: sowohl zusammen mit den Schülern dort als auch getrennt von ihnen. An der Grundschule Heumaden besuchen fünf Schüler der Helene-Schoettle Schule eine Inklusionsklasse, in der sie mit Nicht-Behinderten unterrichtet werden. Die Schillerschule macht auf Grund des persönlichen Kontakts zu den Hahns mit.

Inklusion gab es in Stuttgart bereits bevor in diesem Jahr der Sonderschulzwang gefallen ist. „Wir sind seit 2011 Schwerpunktregion bei der Inklusion und haben vor der Gesetzesänderung mit gemeinsamem Unterricht von Behinderten und Nicht-Behinderten begonnen, um Erfahrungen zu sammeln“, sagt Karin Korn, Leiterin des städtischen Schulverwaltungsamts. Im ersten Jahr wurden 60 behinderte Jungen und Mädchen statt an einer Sonderschule an Regelschulen unterrichtet. Im vergangenen Jahr waren es 473 von 2010 Schülern, und in diesem Jahr wird die Zahl bei rund 550 von ebenfalls um die 2000 behinderten Kindern liegen.

Mit Gummibärchen wird Konzentration gesorgt

Rund 100 Kinder bei den Proben ruhig zu halten. Wie schafft man das? „Mit Gummibärchen und viel Geduld“, sagt Ulrike Hahn. Dass bei der Aufführung alles perfekt ist, darum geht es ihr und ihrem Mann nicht. „Wichtig ist, dass die Kinder lernen miteinander umzugehen und die Scheu voreinander verlieren.“ Bei dem gemeinsamen Projekt in der Stadtkirche klappt das. Ein kleiner Hirte macht mit seinem behinderten Partner ein Klatschspiel vor der Krippe. Ein Engel erklärt einem anderen, wie die Taschenlampe ausgeschaltet wird und rückt dessen verrutschte Flügel zurecht. Und Josef bindet seiner Maria das verrutschte Kopftuch neu.„Das Schöne ist, dass hier alle, ob geistig behindert oder nicht, gleich sind“, sagt Hahn und freut sich, dass auch einige muslimische Kinder mitmachen.

Das Kinderoratorium mit Krippenspiel wird am Samstag, 19 Dezember, 16 Uhr, in der Stadtkirche Bad Cannstatt aufgeführt