Kanzlerin Angela Merkel und der damalige Bundespräsident Joachim Gauck beim Bejubeln der Weltmeisterschaft in Brasilien: sollen sich solche Bilder wiederholen? Foto: dpa

Das Verhältnis des Westens zu Russland hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Fußball-WM bietet Präsident Putin eine perfekte Kulisse, sein Image aufzubessern. Doch die Aufrufe an Staatsführer und Politiker häufen sich, dem Turnier fernzubleiben. Dazu ein Pro und Kontra.

Stuttgart - Bundestrainer Jogi Löw wünscht sich die Kanzlerin als Gast der Fußball-Weltmeisterschaft: „Ich persönlich würde mich sehr freuen, wenn Angela Merkel ein Spiel von uns in Russland besucht“, sagte er „Bild“. Löw erinnert an das Turnier 2014 in Brasilien, als die Kanzlerin „nach dem Endspiel in die Kabine kam, plötzlich mittendrin saß, mit uns angestoßen hat und ganz natürlich war“. Die mannigfaltige Kritik an der russischen Führung aus dem Westen kann Löw nicht beirren.

Doch die Aufrufe an die Staatsführer und Volksvertreter, der WM fernzubleiben, um Präsident Wladimir Putin Missachtung über seine Politik zu zeigen, häufen sich. So hatten unlängst etwa 60 Europa-Abgeordnete aus fünf Parlamentsfraktionen und 16 Ländern die EU-Mitgliedsstaaten aufgefordert, es den Regierungen von Island und Großbritannien gleichzutun und nicht teilzunehmen.

Jetzt ermuntert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch die Staats- und Regierungschefs der Welt, zumindest der Eröffnungsfeier fernzubleiben – das Sportereignis dürfe nicht die von Moskau geförderten Gräueltaten im syrischen Bürgerkrieg schönfärben. In Deutschland tun sich allenfalls die Grünen mit entsprechenden Mahnungen hervor. Ist der Boykottaufruf gerechtfertigt? Dazu ein Pro und Kontra.

Pro: „Kein Jubel mit Demokratie-Gegnern“

Es fehlt schier der Platz, um all das genau aufzulisten, was die russische Führung in jüngerer Vergangenheit – großteils klar erwiesen – alles zu verantworten hat. Die Unterdrückung der Oppositionellen im eigenen Land, die Beeinflussung des Syrien-Kriegs zugunsten des Schlächters Baschar al-Assad, die Besetzung der Krim, der Abschuss von Malaysia Airlines MH17, die Einmischung in die Wahlen fremder Länder oder das dichte Dopingsystem im russischen Sport zum Beispiel. Hinter all dem steckt auch Präsident Putin, dem westeuropäische Werte fremd sind.

An der Seite des „lupenreinen Demokraten“ und dubioser Oligarchen sollte kein Politiker den deutschen Spielern zujubeln. Die WM ist, wie schon die Olympischen Spiele in Sotschi, Putins Show. Sie soll ihn aufwerten und legitimieren – er will derjenige sein, der Russland die alte Vormachtstellung und das Selbstbewusstsein zurückerobert hat. Der Fußball ist bei solchen Ereignissen immer auch Weltpolitik und darf nicht rein sportlich betrachtet werden. Dass Jogi Löw die äußeren Umstände lieber ausblenden würde, mag noch einleuchten. Doch Volksvertreter, die diese verkennen, lassen sich von Putin instrumentalisieren.

Angela Merkel haben die Bilder als entzückter Fan auf der Tribüne oder umgeben von ausgelassenen Nationalkickern in der Kabine nie geschadet – im Gegenteil. Sie mag sich auch ehrlich gefreut haben. Doch müssen sich Politiker so demonstrativ mit des Volkes liebster Nebensache schmücken? Und die WM betreffend ist es ein Unterschied, ob Staatsführer den dringend notwendigen diplomatischen Kontakt zum Kreml pflegen oder ob sie Putins Propaganda-Spiele durch ihre Präsenz in einem besonders günstigen Licht erscheinen lassen. (Matthias Schiermeyer)

Kontra: „Wer will, der möge gehen“

Manche Dinge sind praktisch unausrottbar. Löwenzahn im Garten, nervende Autokorsos nach Hochzeiten und Fußballspielen – und Politiker, die sich während dieser Spiele auf die Tribüne drängen. Die einen, weil es sie interessiert, die anderen, weil sie die Bilder mögen, die dabei entstehen. Beide Gründe haben ihre Berechtigung. Bestes Mittel für genervte: weggucken

Dann gibt es noch den Spezialfall, wenn die Tribüne in Ländern steht, deren politische Spitze nicht mit den Werten harmoniert, die hierzulande hoch gehalten werden. Beispiel Russland. Im Ergebnis gilt aber das Gleiche. Wer will, der gehe hin. Denn: alles andere ist mehr als scheinheilig. Das belegen drei Gründe. Erstens: Es ist noch nicht mal eine Woche her, da hat Angela Merkel Russland besucht. Inklusive gemeinsames Handschüttelfoto. Ein richtiger und wichtiger Besuch, das stellt niemand in Abrede. Gespräche mit etwas Kickstiefeluntermalung zu garnieren, stört auch nicht. Zweitens: Glaubt wirklich jemand, dass die Popularität des russischen Präsidenten davon abhängt, ob er sich mit Kanzlerin oder Bundespräsident auf der Tribüne zeigt? Natürlich nicht. So ein Bild bringt Putin keinen Zugewinn, ohne Foto wird er keine Minuspunkte sammeln.

Und drittens: Es ist unfair den Ausrichter kritisch zu beäugen, nicht aber den Veranstalter. Der Weltfußballverband Fifa wird zwar nicht in der Statistik der korrupten Staaten geführt, stünde dort aber in ziemlicher Nähe zu Russland. Eine von political correctness durchdrungene Regierung müsste eigentlich komplett mit diesen Gesellen brechen. Dann käme die EM 2024 aber gewiss nicht nach Deutschland. Und das wäre ja auch wieder schade. (Christian Gottschalk)