Eine Baulücke in einer Innenstadt – bebauen oder frei lassen? Foto: imago

In den Städten fehlen Wohnungen. Sollen die freien Flächen bebaut werden? Unsere Autoren Christine Keck und Rüdiger Bäßler sind ganz unterschiedlicher Meinung.

Tübingen - Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer droht Grundstücksbesitzern, die nicht bauen wollen, mit Zwang. Der Städtetag rät wegen der juristischen Risiken vor Nachahmung ab. Andere Rathauschefs setzen lieber auf finanzielle Anreize: Sie schlagen vor, die Grundsteuer für Baulücken zu erhöhen. Führt der Zwang zur Bebauung zum Erfolg? Ein Pro und Kontra.

Pro – Lückenschließen sollte Pflicht sein, von Christine Keck

Elf Fußballfelder sind es pro Tag, die zugebaut, umgewandelt, zementiert werden. In Baden-Württemberg liegt der Flächenverbrauch im Schnitt bei 7,9 Hektar, Tendenz steigend. Anstatt immer nur neue Wohngebiete an die Ränder der Städte zu packen, sind Kommunen gefragt, umweltfreundlichere Wege zu gehen. Bauland muss nicht die grüne Wiese verdrängen, es kann auch innerorts gesucht und gefunden werden. Behutsame Nachverdichtung sollte in jeder Stadt zur Pflicht werden, allemal in Zeiten, in denen es hinten und vorne an Wohnraum fehlt.

Konsequent macht das Tübingen, wo selbst entlang von Zuggleisen auf dem zentral gelegenen Güterbahnhofareal ein begehrtes Quartier hochgezogen wurde. In der Universitätsstadt hat der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer das große Lückenschließen angekündigt, und das ist gut so. Eigentum unterliegt einer Sozialbindung, argumentiert Palmer schlüssig und will die Besitzer von leer stehenden Grundstücken dazu drängen, entweder in absehbarer Zeit zu bauen oder an die Stadt zu verkaufen. Ein drastischer Schritt, bei dem Palmer vor allem das Gemeinwohl im Blick hat.

Es ergibt Sinn, in gewachsenen Vierteln städtebaulich nachzulegen. Die Infrastruktur ist sowieso schon vorhanden – von der Straße bis zum Bäcker. Lücken schließen, aufstocken, in zweiter Reihe verdichten, alles wünschenswert. Das löst zwar sicherlich nicht alle Wohnungsprobleme, aber wäre für viele Kommunen ein guter Anfang. rub

Kontra – Im Zweifel besser nicht, von Rüdiger Bäßler

Tübingen - Es wäre doch freundlich von den Rathauschefs jedweder Couleur, wenn sie Politik nicht in erster Linie für Bürger und Gebührenzahler machten, die es erst werden wollen, sondern auch für jene, die es längst sind. Und wenn sie sich nicht als Retter in einer Not gerierten, die sie durch eigene Trägheit oder Ideenlosigkeit mit heraufbeschworen haben.

Der Begriff der Nachverdichtung ist altbekannt, Treiber sind in erster Linie Investoren, die vor allem seit der Finanzkrise 2008 die steigenden Quadratmeterpreise für goldene Geschäfte nutzen. Innerhalb einer ganzen Reihe ausdifferenzierter Quartiergesellschaften ist die Nachverdichtung zum Pestbegriff geworden. Wegen der hohen Preise erwerben Wohnungskäufer nur einen Tiefgaragenstellplatz, besitzen aber zwei Autos. In den Straßen, die im übrigen gern in einem Zustand belassen werden, als gäbe es keinen Bevölkerungszuwachs, wächst das Parkgerangel. Arztpraxen in boomenden Stadtteilen schließen mangels Kapazität ihre Patientenlisten, in den Schulbussen haben Kinder kaum noch Chancen auf einen Sitzplatz.

Städter wehren sich mit gutem Recht dagegen, dass ihr tägliches Leben und Erleben durch allgemeine volkswirtschaftliche Erwägungen über den Nutzen der Nachverdichtung außer Sicht gerät. Erstens sind sie keine Schafe in einem Pferch. Und zweitens ist es noch lange kein Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn ein freies Privatgrundstück auch mal frei bleibt. kek