Alexandra Marisa Wilcke, Andreas Klaue, Ralf Stech und Frank Voß(v. li.) Foto: Haymann

Im Alten Schauspielhaus darf das Publikum in einer Art Gerichtsverfahren abstimmen über die Schwere der Schuld. So sieht es die Inszenierung des Stücks „Terror“ von Ferdinand von Schirach vor.

Stuttgart - Ein Kampfpilot tötet 164 Menschen, um 70 000 zu retten – was sagt das Gesetz dazu? Am Alten Schauspielhaus darf das Publikum Richter spielen. Und stimmt am Premierenabend mit 228 Stimmen zu 137 Stimmen für Freispruch.

Verhandelt wird in dieser fiktiven Gerichtsverhandlung der Fall eines moralischen Dilemmas – ein Major der Luftwaffe hat entgegen dem Befehl seines Vorgesetzten ein Passagierflugzeug abgeschossen, das von einem Terroristen entführt und in ein vollbesetztes Fußballstadion gesteuert werden soll. Ein Notfall also, den der Autor Ferdinand von Schirach als Problem eines Soldaten, zwischen Recht und Gewissen entscheiden zu müssen, in seinem ersten Bühnenstück „Terror“ als Mitmachtheater konzipierte.

Die Bühne als moralische Anstalt, das ist nicht neu. In diesem Fall heißt das Lernziel für die Zuschauer, nach einem durch die Schauspieler vorgeführten Gedankenexperiment zu einem Urteilsspruch zu kommen.

Große Strafkammer am Schwurgericht

Manfred Schneider hat einen Verhandlungsraum gebaut, um den ihn jedes Personal eines Gerichtes beneiden würde. Hohe, geometrisch klar gegliederte Stellwände in einer einheitlichen Optik sorgen für die Ordnung im Saal der „16. Großen Strafkammer am Schwurgericht“. Über einem mehrstufigen Podest thront die Staatsanwältin.

Regisseur Harald Demmer hat die Rolle mit Alexandra Marisa Wilcke besetzt. Eine strenge, sympathische Dame, das Haar fest gewickelt, die Fingernägel rot lackiert. Andreas Klaue gibt den Vorsitzenden Richter. Sein Gegenspieler ist Frank Voß als Verteidiger Biegler. Und wie im wahren Leben sorgt der Verteidiger für die unterhaltsamen Augenblicke der Verhandlung.

Nach (auch) ermüdenden Vorträgen über die mehr als komplexe Rechtslage zu Historie und Aktualität des 2004 verabschiedeten „Luftsicherheitsgesetzes“, nach Monologen über die strafrechtliche Verantwortung des Angeklagten, nach Betrachtungen zu Moral, Würde, Prinzipien, Freiheit und Sicherheit und zum Grundgesetz („ . . . die Würde des Menschen ist unantastbar . . .“) ist es Voß als Verteidiger, der den ganzen Bühnenraum für seine Auftritte nutzt. Seine Mission, im Publikum Sympathie für den Angeklagten mit kleinen launigen Szenerien zu wecken, sorgen für entspannende Momente in der wortlastigen Erregtheit.

So sehen die Fakten aus

„Es ist nicht meine Aufgabe, Befehle zu hinterfragen“: Harald Pilar von Pilchau als Zeuge Christian Lauterbach, zuständig für die Überwachung im Luftraum der Nato, sorgt – nüchtern im Auftritt – für die Fortschreibung der Faktenlage. Und dann Ralf Stech als Angeklagter Lars Koch, der in der Bühnenhierarchie einen einsamen, isolierten Platz einnimmt. „Ja, ich habe es getan“, spricht Stech, ruckt an seiner Uniform und verliert ein einziges Mal die Haltung. „Sie reden die ganze Zeit von Gefühlen, aber für den Terroristen sind Passagiere zu Waffen geworden“, wirft er dem Vorsitzendem Richter vor.

Man kann von Schirach unterstellen, er nutze mit seinem Mitmachtheater die Voyeurhaftigkeit des Menschen aus; sitzen doch in nahezu jeder Gerichtsverhandlung dieser Stadt genügend selbsternannte „Schöffen“ auf den Zuschauerbänken. Doch ist nicht jeder, der ein Flugzeug besteigt, indirekt oder direkt mit der komplexen Rechtssituation des umstrittenen Luftsicherheitsgesetzes konfrontiert? Als Artikel 1 des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben ist das am 11. Januar 2005 erlassene Luftsicherheitsgesetz durchaus umstritten. Es regelt nicht die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Bundeswehrpiloten, der ein entführtes Luftfahrzeug abschießt.

„Urteilen Sie ruhig und gelassen“, hat der Vorsitzende zu Beginn des Abends das Publikum gemahnt – erregte Diskussionen in der Pause zeugen von lebhaftem Interesse. Muss doch auch die Position der Nebenklägerin bedacht werden. Im Alten Schauspielhaus ist es Maja Müller als Ehefrau eines der Abschussopfer. „Was wäre passiert, wenn die Passagiere den Terroristen überwältigt hätten?“ – ihre Frage steht wie ein Menetekel im Raum. „Einen leeren Sarg“ habe sie beerdigt, ihre Tochter könne bis heute nicht verstehen, was geschehen sei – bittere Momente, schöne Theaterminuten.

Die Abstimmung nach der Pause – 228 zu 137 Stimmen für Freispruch, sorgt für Beifall, aber auch für „Buh“-Rufe. Die Inszenierung wird weiter für Diskussion sorgen.

Weitere Aufführungen bis zum 12. März. Karten unter 07 11 / 226 55 05. Mehr Infos unter www.schauspielhaus-komoedie.de