So schön war Knutschen in den 50ern: Fritz Klare mit dem Ensemble des Staatstheaters Foto: JU/Staatstheater

Ende März wird Martin Walser 90 Jahre alt. Das Staatstheater Stuttgart bringt nun eine seiner erfolgreichsten Romane auf die Bühne: die „Ehen in Philippsburg“. Wobei Philippsburg in Wirklichkeit Stuttgart ist.

Stuttgart - Ein junger Mann, Flanellhose, weißes Oberhemd, ein billiges Köfferchen in der Hand, arschiert auf dem Laufband, gleichmäßiger Schritt, offener Blick. Er läuft und läuft, müht sich und schwitzt und kommt doch nicht von der Stelle. Hans Beumann (gespielt von Matti Krause) heißt der junge Mann. Er ähnelt in diesem vergeblichen Bewegungsdrang seinem literarischen Vater, dem Landvermesser K. in Kafkas Roman „Das Schloss“. Hätte das besinnungslose Rollen in Bierlachen von K. und der Bedienung Frieda Folgen gehabt, wäre vielleicht neun Monate später ein Sohn wie Hans Beumann geboren worden. Das Licht der literarischen Welt erblickt hat er aber woanders: 1957 veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag Martin Walsers Roman „Ehen in Philippsburg“. Beumann taucht hier als unehelicher Sohn einer Serviererin und eines Landvermessers in einem Dorf namens Kümmertshausen auf. Wie K. versucht auch er, Zugang zu einer ihm verschlossenen Welt zu bekommen, zur besseren Gesellschaft, die in einer Villengegend auf einem Hügel residiert.

Der angehende Journalist Hans erhält aber nur Einlass, wenn er sich verkauft. Der Industrielle Arthur Volkmann (Michael Stiller) sucht einen Mann, der für sein Gewerbe Werbung macht – und einen Ehemann für Tochter Anne (Sandra Gerling), das spröde Mädchen. Da Hans pleite ist und keine Protektion genießt, wird er zum Sprachrohr der Industrie und Annes Lover – doch zu welchem Preis!

Man hätte frei umgehen müssen mit dem Text, doch das wagen die Stuttgarter nicht

Ebenso wie bei Franz Kafka wird das Erleben der Welt bei Martin Walser aus der Perspektive der Helden erzählt. Und die ist nicht immer verlässlich, dafür oft komisch und gespenstisch, weil man Einblick ins Denken und Fühlen von Figuren erhält. Walser offenbart ihre Arroganz, ihre Kleinmütigkeit, ihre Selbstüberschätzung, ihre Komplexe und Ängste. Während man zugleich durch das Geschehen erfährt, in welch großem Gegensatz Fühlen und Handeln stehen. Durch die Analyse gesellschaftlicher Heuchelei erscheinen Hans und die Seinen dem Leser wie Zeitgenossen. Sie könnten auch in diesen Tagen in Philippsburg, Stuttgart oder anderswo leben und leiden.

Doch die Genauigkeit der Welt- und Seelenzergliederung, die Metaphern und Vergleiche, die Martin Walser dafür findet – wie all die herrlichen unfreiwilligen Lächerlichkeiten sichtbar werden lassen? Das macht eine Adaption für die Bühne schwer, wenn man es nicht wagt, frei gestaltend mit dem Stoff umzugehen. Und Regisseur Stephan Kimmig und Dramaturg Jan Hein haben es nicht gewagt.