Zum Saisonauftakt im Schauspielhaus Stuttgart macht der Intendant und Regisseur Burkhard C. Kosminski aus Henrik Ibsens Drama „Ein Volksfeind“ eine Moralpredigt.
Es dauert rund 45 Minuten, dann gerät Tomas Stockmann (Matthias Leja) ins Wanken. Er legt die Stirn in Falten, beginnt zu zittern, wird weinerlich. Sein Bruder Peter (Sven Prietz), zugleich Kurbadchef und Bürgermeister, befiehlt ihm, seine Erkenntnisse über giftiges Wasser in den Kuranlagen zu vertuschen, sonst wird er entlassen.
Zuvor hatte man den Arzt und Wissenschaftler am Samstag bei der Premiere von Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ auf der Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses lebensfroh, selbstbewusst, klug erlebt. Er genießt den Wohlstand, den sein Job (den sein Bruder ihm verschafft hat) mit sich bringt. Statt seinen Gästen wie noch bei Ibsen einen Rinderbraten anzupreisen, lässt man in Burkhard C. Kosminskis Inszenierung im Hause Stockmann einen Joint herumgehen, wälzt sich Stockmann mit Gattin Katrine (Katharina Hauter) und seinem Freund, dem Journalisten Hovstad (Klaus Rodewald) in einer Ménage-à-trois auf großen Liegekissen (Bühne: Florian Etti). Man genießt das lockere Leben liberaler Intellektueller, ist aber moralisch standfest. Nun steht Stockmann da in seinen Leinenhosen und dem Jeanshemd, blickt in Abgründe, die eigenen und die der anderen.
Profit geht vor Moral in Ibsens „Volksfeind“
Stockmann hatte damit gerechnet, dass die Stadt ihn für seine Entdeckung feiert und den Missstand behebt. Doch das Bad müsste zwei Jahre geschlossen werden, auf den Kosten blieben die Steuerzahler hocken, zudem verlören Stadt, Händler und Immobilienbesitzer wegen der ausbleibenden Kurgäste Einnahmen. So argumentiert sein lieber Bruder und gibt eine Gegenstudie in Auftrag, die „alles halb so wild“ zum Ergebnis hat und der die Bürger und die Presse zu gern glauben. Profit geht vor Moral, da kann Stockmann den Leuten in einer Versammlung noch so heftig ins Gewissen reden.
Mit einem kompletten Klima-Nachhaltigkeits-Premierenwochenende („Ökozid“ und „An und Aus“) ist Burkhard C. Kosminski vergangene Saison gestartet. Weil die Kunst nachhaltig sein soll, wird zum Spielzeitstart im Schauspiel Stuttgart daran angeknüpft. „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen aus dem Jahr 1882 passt da ganz gut. Es geht um einen Umweltskandal und Aktienspekulationen, Machtmissbrauch, Presseskandal und um einen moralisch Aufrechten, der sich mit allen anlegt und als Volksfeind diffamiert wird.
Burkhard C. Kosminski reichert die Ansprache Stockmanns mit tagesaktuellen Themen an – Verzicht sollen die Leute üben, an die Zukunft der Kinder denken, den Klimawandel stoppen, Schluss machen mit dem ewigen kapitalistischen „Immer mehr, immer weiter“.
Es geht allerdings bei Ibsen so einfach und klar doch nicht zu. Also wird gekürzt, umgestellt, ein neuer Schluss ersonnen. Bei Ibsen geht der Gattin die finanzielle Sicherheit der Familie vor. Nur die erwachsene Tochter Petra, eine Lehrerin, hegt emanzipatorische Fortschrittsgedanken und wird stinksauer, als der Journalist sagt, nur weil er in sie verliebt sei, helfe er dem Vater. Weil so ein Frauenbild nicht zeitgemäß ist, werden zwei Figuren zu einer: Katharina Hauter ist die mit Hovstad knutschende Ehefrau, die zugleich an der Uni arbeitet, den Spagat Arbeit und Familie beherrscht und ihren Mann in seinem Vorhaben unterstützt.
Tomas Stockmann ist ein komplizierter Typ
Der Kehraus in Sachen Kompliziertheit funktioniert beim Titelhelden weniger gut. Stockmann ist zwar ein guter Arzt und Wissenschaftler, und er ist mit seinen Forderungen im Recht. Aber er ist zugleich naiv, herrisch, elitär. Als zu Beginn sowohl der Medienmann Hovstad ihn unterstützt als auch der Verleger und Handelskammervertreter Aslaksen – aalglatter Typ mit Haarzöpfchen (Marco Massafra) – winkt er ab. Er freut sich zwar, „geil“, die Mehrheit hinter sich zu haben, glaubt aber nicht, dass er sie braucht.
Mit seiner Entdeckung wischt er zudem seinem Bruder, dem erfolgreichen Rivalen, eins aus. Er will die Hosen anhaben im Städtchen – und die Dienstjacke gleich dazu. Wenn er scherzhaft das Sakko des Bruders überzieht und vor ihm hin und her paradiert, spielt der Wunsch nach Brudervernichtung mit hinein.
Stockmanns Hybris und Verachtung der Demokratie gibt Ibsen viel Raum, lässt ihn steile Thesen formulieren, sich in Beleidigungen verlieren. Ein Mann, der sich nietzscheanisch als Übermensch sieht, als geistig vornehm im Vergleich zum gewöhnlichen Volk, das er als Straßenköter und Bauernhühner beschimpft, während er sich als frei denkender Vorreiter einer neuen Zeit begreift.
Das passt nicht ins schlichte Regiekonzept, also sind die Passagen nur im Reclam-Heft zu lesen. Selten darf sich Matthias Leja zu „Ich, Ich, Ich“-bin-der-Größte-Reden aufschwingen, Kosminski verordnet ihm Mäßigung. Wo der Autor eine ambivalente Charakterstudie kreiert, fegt der Regisseur jeden Zweifel an der Integrität des Helden von der Bühne. Die moralische Botschaft kommt wie oft in Kosminskis Inszenierungen klar rüber, dabei geht aber auch die Vielschichtigkeit, die Kunst, verloren.
Info
Aufführungstermine
im Schauspiel Stuttgart sind am 29. September, 4., 9., 10., 30. Oktober, 12., 27. November, 7., 14., 17. Dezember. Karten unter 0711 / 20 20 90.
Die nächsten Premieren
„Der Triumph der Waldrebe in Europa“ von Büchnerpreisträger Clemens J. Setz kommt am 14. Oktober im Kammertheater zur Uraufführung. Regie führt Nick Hartnagel.