Die Chorsänger spüren nach, wie es klingt, wenn man eine Frage in den großen Friedenskirchenraum hinein singt. Foto: factum/

Menschen mit und ohne Behinderung, mit und ohne Migrationsgeschichte und mit unterschiedlichem Glauben singen im ersten Ludwigsburger Diversity-Chor zusammen. Jetzt hat er seine Feuertaufe bestanden.

Ludwigsburg - Für Ohren, die auf Gleichklang und Perfektion geeicht sind, mag es sich gewöhnungsbedürftig anhören: Bei einem auf die „Bruder Jakob“-Melodie angelegten Lied, in dem die abgewandelte „Hörst du nicht die Glocken“-Passage „Hörst du meine Stimme?“ heißt, singt Judith Traub diese vier Worte jedes Mal zeitversetzt. Immer genau ein paar Sekundenbruchteile später als der Rest-Chor setzt die Frau mit Down-Syndrom ein. Lautstark, mit ausgestreckten Armen, vollem Körpereinsatz, aufgewühlt. Gut möglich, dass bei dieser Passage der Gedanke an eine kürzlich verstorbene Freundin aus ihrer Wohngruppe mitschwingt.

Gegen den Strich gebürstet

Gleichklang und Perfektion sind hier, im Chorraum der Friedenskirche, nicht die unverrückbaren Parameter für musikalische Erfüllung. Im Gegenteil. Der erste Ludwigsburger Diversity-Chor bürstet die Vorstellung davon, dass nur maximale Homogenität Gutklingendes hervorbringt, kräftig gegen den Strich. „Wir versuchen das radikale Gegenteil und streben maximale Heterogenität an“, sagt der Chorleiter Bernhard König. Das bedeute keineswegs, auf Qualität zu verzichten: Das Projekt wolle die Verschiedenheit der Gesellschaft hörbar machen und dafür neue musikalische Formen und eine neue Chor-Ästhetik finden.

In der Friedenskirche, in der der Chor passend zum Sonntag Exaudi („Herr, höre meine Stimme“) erstmals auftritt, ist folgerichtig ein Querschnitt der Gesellschaft dieses Landes vereint: Kinder, Erwachsene, Menschen, die hier aufgewachsen und andere, die aus anderen Ländern hergekommen sind. Menschen ohne und Menschen mit Handicap. Menschen christlichen, muslimischen und jüdischen Glaubens, vielleicht auch Menschen, die an gar nichts glauben.

„Singen befreit die Seele“

Überglücklich, Teil dieses Chores sein zu können, ist Karina Folkmer. Sie sitzt im Rollstuhl, ihre Gliedmaßen wollen nicht immer, wie sie will, auch manches Wort möchte ihr nicht auf Anhieb über die Lippen. Doch auch ein Mensch, der ohne Beeinträchtigung lebt, könnte wohl nicht treffender auf den Punkt bringen, was sie an dieser Erfahrung schätzt: „Dass sich Menschen begegnen, behinderte und nicht behinderte, und zusammen etwas Musikalisches machen“, sagt die 42-Jährige, die seit 2004 auf der Karlshöhe lebt. „Das ist das erste Mal, dass wir Leute von der Karlshöhe gefragt worden sind, ob wir bei so was mitmachen wollen.“

„Singen befreit die Seele. Es macht fröhlich und beflügelt“, legt Karina Folkmer nach. „Und man kann damit Brücken bauen, vom einen zum anderen.“ Und dass es so wunderbare Musik gebe, sagt sie mit Blick auf die Instrumentalgruppe, habe sie vorher nicht gewusst. Sie meint die Musiker und Sänger aus dem Ensemble Fugato, viele mit Fluchterfahrung, die an Instrumenten wie der Tabla sitzen und Lieder mitgebracht haben wie das bittersüß-melancholisch persische Liebeslied „Gole sangam“. In der Friedenskirche stimmen den Refrain alle gemeinsam an. „In unserem Wohnheim-Chörle singe ich auch ab und zu“, erzählt Karina Folkmer. Das sei aber sehr andere Musik als diejenige, die sie jetzt kennengelernt habe.

„Komplett großartig“

Auf die Beine gestellt hat den Chor, der die Unterschiedlichkeit feiert, der Komponist und Dirigent Bernhard König zusammen mit der Pädagogischen Hochschule, dem interreligiösen Musikprojekt Trimum, dem Fugato-Ensemble, der Friedenskirchengemeinde und der Karlshöhe Ludwigsburg.

Für den Citykirchenpfarrer Martin Wendte ist der Chor, den er in seinen Gottesdienst eingebaut hat, eine Wucht: „Es ist komplett großartig, wie viel Kreativität, soziale Kompetenz und infrastrukturelles Backup in diesem Projekt steckt.“ Den Gottesdienst, der sich überdies an einer Ausstellung von Bildern entlang rankt, für die sich Bewohner der Karlshöhe mit der Frage beschäftigt haben, wie man „Hören“ eigentlich malen kann, nennt er „einen der eindrücklichsten, den ich hier gefeiert habe“. Das sei Inklusion im besten Sinne: „Nicht: Wir machen was und ihr dürft mitmachen. Sondern: Wir machen gemeinsam was Neues.“

Der Wunsch nach mehr

Ob es wieder einen Auftritt geben wird, steht noch in den Sternen. Das hängt an Personen und an Geld. „Für den Moment ist es eine einmalige Sache gewesen, weil ich für ein halbes Jahr eine Vertretungsstelle an der PH hatte“, sagt Bernhard König, der für seine interkulturelle Arbeit mehrfach ausgezeichnet wurde. Karina Folkmer wünscht sich inständig, dass es keine Eintagsfliege bleibt: „Es wäre schön für uns, wenn wir wieder mitmachen könnten.“ Pfarrer Martin Wendte meint dazu nachdenklich: „Die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben, dass ein Wunsch so stark da ist und nicht richtig durchdringt, hat etwas Bedrängendes.“

Musik baut Brücken

Geld für mehr
Im Rahmen des Projekts „Ludwigsburg – Lieder einer Stadt“ hofft der Verein Trimum – Musik für Juden, Christen und Muslime derzeit, dass er Fördergelder aus einem Programm des Bundesinnenministeriums erhält, „um Ludwigsburg zum Singen zu bringen“, wie der Trimum-Koordinator Alon Wallach sagt. Dann könnten Projekte wie der Diversity-Chor oder das geplante Ludwigsburg-Liederbuch eine solide Basis bekommen.

An einem Strang
„Wie viele Kooperationspartner in Ludwigsburg Zeit, Herzblut und Geld für interkulturelle Projekte investieren und an einem Strang ziehen, ist großartig und nicht selbstverständlich“, sagt Alon Wallach, der auch das Fugato-Ensemble leitet. Die Pädagogische Hochschule, das Forum am Schlosspark, das Büro für Integration und Migration der Stadt, die Jugendmusikschule, das Scala und andere Player: „Wie all diese tollen Kulturschaffenden Hand in Hand arbeiten, ist ein großes Glück“, sagt Wallach.