Foto: Universität Stuttgart/Frank Eppler

Jörg Wrachtrup von der Universität Stuttgart hat den renommierten europäischen Forschungspreis ERC-Grant erhalten. Es war nicht sein erster Erfolg.

Stuttgart - Jörg Wrachtrup ist Materialforscher. Und Physiker. In seiner mehr 30-jährigen Forscherkarriere hat er nicht im Traum daran gedacht, ein kosmisches Problem zu lösen. Doch jetzt schickt sich der 55-jährige Leiter des 3. Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart an, der sogenannten Dunklen Materie auf den Leib zu rücken. Das ist zumindest sein Fernziel.

„Als Wissenschaftler sollte man immer zehn Prozent seiner Zeit an verrückten Ideen arbeiten“, sagt Wrachtrup mit verschmitztem Lächeln. Das hatte sich schon mehrfach für ihn ausgezahlt. In frühen Jahren suchte er Defekte in Diamanten. Da promovierte er noch über ein ganz anderes Thema in der Molekülphysik. Diese Fehlstellen im Diamant sind heute sein Kernarbeitsgebiet und haben die Tür zu einem neuen Forschungsfeld aufgestoßen – bis hin zur Kosmologie.

Das Elektron spinnt

Dabei beschießen die Festkörperforscher einen Industriediamanten, den sie selbst hergestellt haben, mit Stickstoffatomen (N). Ein solches schlägt aus dem regelmäßigen Diamantgitter ein Kohlenstoffatom (C) heraus und setzt sich an dessen Stelle. In der Nachbarschaft bildet sich automatisch eine Leerstelle, ein sogenannter Defekt, der ein einzelnes Elektron bindet. Und mit diesem Elektron lässt sich arbeiten.

Das Elektron rotiert – es hat einen Spin, sagen die Physiker – und verhält sich dabei wie eine Kompassnadel: Es reagiert auf winzigste Magnetfelder äußerst empfindlich. Damit ist es prädestiniert als Sonde und Sensor in unserer von elektromagnetischen Effekten dominierten Welt. Und mehr noch: Die Spins der Elektronen lassen sich nicht nur untereinander verkoppeln und zusammenschalten, sondern auch mit den Kernspins der Atomkerne im Diamantgitter verkoppeln und zusammenschalten. Damit lässt sich rechnen, und internationale Forschergruppen wie das 40-köpfige Team von Wrachtrup loten längst Möglichkeiten aus, sogenannte Quantencomputer auf Basis der Spins in den Diamantplättchen zu bauen.

Nun hat Wrachtrup schon zum zweiten Mal einen prestigeträchtigen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) erhalten. Damit sind jeweils 2,5 Millionen Euro verbunden, die ein versierter Forscher in seine persönliche Forschungsagenda stecken kann. Die bislang ungewöhnliche zweite Auszeichnung zeigt, dass die Forscher um Wrachtrup nicht nur äußerst erfolgreich waren, sondern man noch wesentliche Erkenntnisse und anwendungsbezogene Ergebnisse erwartet.

„Jörg Wrachtrup war im Jahr 2011 einer der ersten Wissenschaftler überhaupt, der einen ERC-Grant zuerkannt bekam. Dass er diese hohe Auszeichnung nun zum zweiten Mal in Folge erhält, bestätigt seine herausragende wissenschaftliche Exzellenz wie auch die der Quantentechnologien an der Universität Stuttgart“, kommentierte der Stuttgarter Uni-Präsident Wolfram Ressel die Auszeichnung. Dass in der aktuellen Förderrunde zwölf Grants nach Baden-Württemberg gingen, bestätigt für Wissenschaftsministerin Theresia Bauer, dass „in Baden-Württemberg die richtigen Köpfe an den richtigen Themen arbeiten“.

Robuste und kontrollierbare Quantensysteme

„Wir wollen robuste und gut kontrollierbare Quantensysteme synthetisieren und nutzen“, umschreibt Wrachtrup sein Forschungsprogramm. In den vergangenen Jahren haben die Forscher gelernt, wie man einzelne Quantensysteme – die Rede ist hier immer von den Elektronenspins bei den Stickstofffehlstellen im Diamanten – herstellen, dann immer mehr synthetisieren und zusammenschalten kann. Die Herausforderung war dabei immer, dass Quantensysteme sprichwörtlich flüchtig sind: Sie reagieren so empfindlich auf ihre Umgebung, dass die enthaltene Information sofort zerfällt – als würde ständig jemand den Reset-Knopf drücken. Im festen Diamantgitter gelang es aber den Forscherteams, stabile, robuste und kontrollierbare Quantensysteme zu bauen. „Unser größtes Ziel ist das ‚immortal Qubit‘, da arbeiten wir noch dran“, sagt Wrachtrup. Damit meint er das unsterbliche Quantenbit, das nicht mehr zerfällt. Derzeit können die Forscher bis zu zehn Spins zu zehn Qubits zusammenschalten und rund zehn Sekunden stabil halten – und das bei Raumtemperatur.

Eine weitere Anwendung neben dem Quantencomputer und der Quanteninformationstechnik ist die hochgenaue Vermessung von Molekülen mit den Quantensensoren. Ähnlich wie Menschen im Magnetresonanztomografen (MRT) durchleuchtet werden, können die Forscher einzelne Moleküle vermessen. Dazu träufeln sie eine Substanz auf ein Diamantplättchen. Darin befinden sich viele sensitive Gitterfehlstellen als Quantendetektor. Moleküle, die sich zufällig über solch einer Fehlstelle befinden, können elektromagnetisch vermessen werden. Durch statistische Verfahren können die Forscher Proteine in der Lösung aufspüren und untersuchen, wie Nabeel Aslam aus dem Team von Wrachtrup und japanische Kollegen jetzt im Fachmagazin „Science“ demonstrierten. Da die Technik mit weitaus geringeren Probenvolumen auskommt, ist sie milliardenfach genauer als ein klassisches MRT.

Flaggschiff und neues Zentrum für Angewandte Quantenwissenschaften

Die Anwendungsmöglichkeiten der Quanten sind so vielversprechend, dass die EU eigens ein Flaggschiffprojekt zur Quantentechnologie aufgelegt und mit einer Milliarde Euro auf zehn Jahre ausgestattet hat. Baden-Württemberg seinerseits setzt an Standorten wie Stuttgart und Ulm auf die Quantentechnologie. Auf dem Campus der Uni Stuttgart entsteht demnächst unter Wrachtrups Federführung das Zentrum für Angewandte Quantentechnologie (ZA Quant) für rund 40 Millionen Euro.

Der Einzug der Forscher ist für 2020 geplant. Dann will Wrachtrup mit seinen hochempfindlichen Quantensensoren auch der Dunklen Materie nachspüren. Eine Theorie besagt, dass deren zusätzlicher Gravitationseffekt – den Astronomen im Kosmos messen, aber nicht sehen können – durch ein permanentes Hintergrundfeld sogenannter Axionen erzeugt wird.

Die Forscher wollen nun am ZA Quant zwei elektrische Ladungen vermessen und beobachten, ob es bestimmte Abweichungen zu etablierten physikalischen Gesetzen gibt. Wrachtrup rechnet damit, dass seine Experimentiertechnik entsprechend hochpräzise sein sollte. „Der Beitrag der Physiker zu den Naturwissenschaften bestand immer in Präzisionsmessungen. Und Abweichungen deuten auf Neues hin“, erläutert Wrachtrup. Die Theorie um die Axionen und deren Messung ist hochspekulativ, genauso wie andere Ideen zur Dunklen Materie. Für den wachen Forschergeist Wrachtrup, der meist sonntags ins Institut kommt, um den verrückten Ideen nachzuhängen, aber genau richtig.

Neubau

Im Herbst 2017 wird das Baufeld am Allmandring auf dem Campus Vaihingen der Uni Stuttgart vorbereitet. Im Jahr 2020 wollen dann 15 Arbeitsgruppen den 40 Millionen Euro teuren Forschungsbau beziehen.

Aktive Sensoren

Die Forscher untersuchen und entwickeln neue Herstellungsverfahren von Quantensensoren, etwa auf Basis von Diamantschichten und Quantengasen.

Ansteuerung

Quantensensoren sind empfindliche Gebilde. Wichtig sind daher Ansteuerung und Auslesen der Informationen der Sensoren.

Neue Bauteile

Sensorik und Ansteuerung müssen zu nutzbaren Bauteilen verschmolzen werden. Hierzu gibt es eigene Projekte der Aufbau- und Verbindungstechnik.

Anwendung

Als Anwendungsfelder zielen die Forscher auf Quanteninformationstechnik und Quantencomputer, neue Sensoren für Fahrzeuge, grundlegende Physik und Messtechnik sowie spekulative Erkenntnistheorie – wie bei der Suche nach der Dunklen Materie.