Erzieherin Gabi Meier hinterfragt mit Finja und Mika (v. li.)die Naturwissenschaften. Foto: Leif Piechowski

In der Großbettlinger Einrichtung werden Kinder zu kleinen Forschern erzogen.

Grossbettlingen - Erika Schreck ist noch ganz aufgekratzt. Erst vor kurzem hat sie in Wolfsburg einen von fünf ersten Preisen des Wettbewerbs Forschergeist 2012 entgegengenommen, den die deutsche Telekom-Stiftung und die Stiftung Haus der kleinen Forscher ausgeschrieben hatten. „Aber ich konnte es einfach nicht glauben.“ Bundesweit hatten schließlich 1135 Kitas um die mit 5000 Euro dotierten Preise gebuhlt. Andererseits muss sich Erika Schreck nicht wundern: Ihre Einrichtung in Großbettlingen (Kreis Esslingen) ist herausragend.

Das gilt bei 950 Quadratmeter Fläche schon für die Größe: Ums Haus herum gibt’s zudem ein parkähnliches Gelände mit Spielmöglichkeiten von der afrikanischen Höhle bis zum Barfußpfad. Mehr noch gilt das aber für ein Konzept, das die 90 Kinder im Regelalter (es gibt noch 15 Kinder unter drei Jahren mit drei Erzieherinnen) und ihre elf Erzieherinnen gleichermaßen begeistert.

Der Start war recht holprig, gibt Erzieherin Gabi Meier zu. Am Anfang stand die Idee, die Gruppen in der Kita komplett aufzulösen und das ganze Haus für alle zu öffnen. Jedes Kind entscheidet also selbst,welchen Kreativbereich es ansteuert, ob es bauen und konstruieren, ins Labor oder lieber ins Atelier will. „2004 haben wir eine Diplompädagogin beauftragt, die Umgestaltung zu begleiten“, sagt Erika Schreck. Hintergrund war die Feststellung, dass gerade Kinder im Vorschulalter besonders wissbegierig und aufnahmefähig sind: „Wir wollen ihnen den Weg zu Bildung zeigen.“

Alle fünf Wochen ins Waldhaus

Über Jules Vernes Geschichte „In 80 Tagen um die Welt“ wurde das Konzept umgesetzt. Zunächst wussten die Kinder die neue Freiheit nicht so recht zu nutzen. Doch über das Morsen fanden sie den Einstieg. „Ich habe einen Kumpel, der morst, hergebracht, der hat uns gezeigt, wie es geht“, sagt Gabi Meier. Mittlerweile können fast alle ihren Namen morsen. Plötzlich waren die Kinder Feuer und Flamme für das Projekt. Nächstes Forschungsobjekt war eine Dampfmaschine. Mit einem Kochtopf wurde Dampf erzeugt, mit einem Flötenkessel Pfiffe. In Neuffen durften die Nachwuchsforscher ins Führerhaus einer echten Dampflok. Ein Ereignis zog und zieht das nächste nach sich, jedes Thema scheint ein anderes im Schlepptau zu haben, das ebenfalls erforscht werden will. „Das Ganze ist jetzt ein Selbstläufer“, sagt Erika Schreck. Beim Universal-Genie Leonardo da Vinci fragten die Kinder, ob der auch fliegen konnte. Ruck, zuck war man bei Otto von Lilienthal und dem Grafen von Zeppelin angelangt und bei Versuchen, was fliegt und was nicht. In den Fluren hängen überall Weltkarten, um die Reiseziele von Jules Vernes Phileas Fogg zu finden, und eine ganze Wand voller Uhren mit der jeweils aktuellen Zeit in Hongkong, Sydney, Dubai – und Großbettlingen.

Die Kita am See ist ein scheinbar endloses Terrain für alle nur denkbaren Betätigungsfelder. Nicht nur dass es alle fünf Wochen für eine Woche in ein Waldhaus geht: Zur Auswahl stehen jeden Tag der naturwissenschaftliche Raum mit Elektrogeräten, der Bereich Mensch/Tier/Umwelt mit lebenden Schildkröten und Guppys, das Labor und die Wasserwerkstatt. Im Bereich Sprache trifft man auch auf chinesische und ägyptische Schriftzeichen. Hauptattraktion im Bewegungsraum ist das große Kletternetz, und im Atelier dürfen die Wände mit Gouache-Farben bearbeitet werden. Im nächsten Raum gibt’s eine Bühne für Theater und Ballett und Musikinstrumente. Anthroposophisch mutet der religionspädagogische Raum an, laut und wild geht’s oft in der Badelandschaft zu, einem Raum mit übergroßer Wanne und Zubern für Wasserspiele. Was in der Aufzählung noch fehlt, ist der Werkraum, das Zimmer fürs Bauen und Konstruieren, der mathematische Bereich und die Montessori-Ecke. In die beiden letztgenannten Bereiche soll das Preisgeld fließen, außerdem in ein Mikroskop fürs Labor.

Ohne engagierte Eltern geht es nicht

Erika Schreck ist der quirlige Motor des Ganzen. Die 50-Jährige sagt aber auch, dass es ohne engagierte Eltern, die auch beim Umbau der Räume mit anpacken, nicht ginge. Und auch die Gemeinde als Träger steht hundertprozentig hinter ihren Kitas. Bürgermeister Martin Fritz ist stolz auf den Bundessieg: „Für so etwas kann man sich nicht aus dem Stand heraus bewerben, da braucht es einen langen Prozess.“ Fritz und sein Hauptamtsleiter Edmund Zanger dürfen sich auf die Schulter klopfen. Denn bundesweit einmalig ist der Umstand, dass auch der zweite Kindergarten am Ort, die Kita Regenbogen, unter den ersten gelandet ist. Er hat einen von insgesamt 15 zweiten Preisen mit 3000 Euro Preisgeld abgeräumt. Für eine Gemeinde mit gerade einmal 4200 Einwohnern keine Selbstverständlichkeit. Erika Schreck und ihr Team werten den Preis als sehr hochkarätig: Zur achtköpfigen Jury gehörte auch Wassilios Fthenakis, Präsident des Didacta- Verbandes, der allgemein als Koryphäe gilt.

Skeptisch sieht solche Projekte allerdings der Landeselternrat Baden-Württemberg für Kinderbetreuungseinrichtungen. „Normalerweise fehlt den Erzieherinnen die Zeit dafür. Und durch Vor- und Nachbereitung solcher Projekte geht noch mehr Zeit für die Kinder verloren“, kritisiert Geschäftsführer Peer Giemsch. „Wenn die Rahmenbedingungen gut sind, sind solche Projekte aber durchaus ein Bonus.“