Zwischen 1946 und 2014 wurden 3677 Minderjährige von 1670 Klerikern missbraucht. Foto:  

Der sexuelle Missbrauch von Kindern innerhalb der katholischen Kirche ist in aller Munde. Wie gehen eigentlich die Kirchengemeinden vor Ort mit dem belastenden Thema um? Eine Spurensuche an der Basis in Filderstadt.

Filderstadt - Die Zahlen über sexuellen Missbrauch in der deutschen katholischen Kirche, die jüngst veröffentlicht wurden, haben viele Menschen erschüttert. Laut der MHG-Studie (interdisziplinäres Forschungsprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“) wurden zwischen 1946 und 2014 wurden 3677 Minderjährige von 1670 Klerikern missbraucht. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Auch die Diözese Rottenburg-Stuttgart, zu der katholische Gemeinden in Filderstadt gehören, blieb nicht verschont: Dort wurden 72 Kleriker bekannt, die des Missbrauchs an Minderjährigen beschuldigt werden. Bischof Gebhard Fürst hat im September erklärt, bis ins Mark erschüttert zu sein. „Null Toleranz ist die Maxime unserer Diözese.“ Fürst hob die Bedeutung von Präventionsarbeit hervor.

Die katholische Seelsorgeeinheit Filderstadt, die sich aus den Gemeinden in Bonlanden, Plattenhardt, Sielmingen und Bernhausen zusammensetzt, hat in Anlehnung an die Diözese eine Präventionsstrategie entwickelt. „Wir tun das nicht aus schlechtem Gewissen, sondern weil uns die Kinder und Jugendlichen am Herzen liegen“, betont der Pastoralreferent Reinhold Walter. Auf den Fildern sei, Gott sei Dank, kein Missbrauchsfall bekannt geworden.

Weg von der Männerkirche

Zur Prävention gehört zum einen, dass Angestellte ein polizeiliches Führungszeugnis und eine Selbsterklärung abgeben müssen. Zudem werden alle hauptamtlich und – eine Besonderheit der Gemeinde – auch alle ehrenamtlich Beschäftigten ab 14 Jahren verpflichtet, eine Ehrenerklärung abzugeben. „Darin verpflichten sie sich, auf ihr eigenes Verhalten und auf ihr Umfeld zu achten“, sagt Walter. Wichtig sei gewesen, die Leitlinien positiv zu formulieren und nicht nur aufzulisten, was nicht getan werden darf. So steht darin : „Ich gehe achtsam und verantwortungsbewusst mit Nähe und Distanz um. Individuelle Grenzen von anderen respektiere ich.“ Oder: „Ich beziehe gegen diskriminierendes, gewalttätiges und sexistisches Verhalten, ob in Wort oder Tat, aktiv Stellung.“

Ist eine Umarmung in Ordnung?

Die Leitlinien werden nicht nur unterzeichnet, sondern in einer Schulung gemeinsam ergründet. Gezeigt werden soll, dass Grenzüberschreitung schon im Kleinen anfängt– etwa bei der Frage, ob jemand zur Begrüßung umarmt wird oder nicht. „Es ist immer interessant, zu sehen, dass die Einschätzungen der Teilnehmer oft ganz unterschiedlich ausfallen. Deshalb ist es wichtig, ein Gespür zu entwickeln, was für den anderen okay ist. Jeder hat seine eigenen Grenzen“, sagt die Jugendreferentin Franziska Griebel. Neben sexuellem Missbrauch werde das Thema Kindeswohlgefährdung angesprochen, das viel mehr umfasst als Missbrauch, etwa Vernachlässigung. „Wir versuchen, genau hinzuschauen und Anzeichen zu erkennen“, sagt Griebel. Schulungsteilnehmer lernen, wohin sie sich bei einem Verdacht wenden können.

Prävention zeigt sich konkret: Früher fand die Beichte alleine mit dem Pfarrer im Beichtstuhl statt, heute in einem einsehbaren Raum mit offener Türe. Es gehe dabei nicht um einen Generalverdacht, sondern eben um Prävention, betont Walter. Um niemanden zu verunsichern, nehmen grundsätzlich alle in der Kirche Aktiven an den Schulungen teil, egal ob Putzfrau oder Mesner. „Keiner soll denken, warum traut ihr mir nicht? Wir wollen keine Angst schüren, sondern sensibilisieren“, so Walter.

Damit in Zukunft Missbrauch keinen Platz in der katholischen Kirche hat, müssen sich Strukturen ändern, darin sind sich Walter und Griebel einig. „Die australische Bischofskonferenz hat es angesprochen: Wir müssen über das Zölibat reden“, sagt Walter. Laut der Studie seien 60 Prozent der Täter Priester gewesen; der Zusammenhang zum Zölibat sei offenkundig. Auch die hierarchische Struktur der katholischen Kirche und der Fakt, dass sie immer noch eine „Männerkirche“ sei, müssten überdacht werden, um Missbrauch keinen Raum zu geben. „Wenn Kirche Zukunft haben will, muss sie sich hinwenden zum Kollegialen, Demokratischen und Gemeinschaftsorientierten“, ist Walter sicher. Er habe das Gefühl, dass langsam etwas aufbreche. Der Ansatz von Papst Franziskus, der weg wolle von der Uniformität der Kirche, der nicht alle Entscheidungen nach Rom lenken möchte, sei richtig.

Zurück auf die Filderebene: Die Missbrauchsfälle haben keineswegs dazu geführt, dass in den hiesigen katholischen Gemeinden die Jugendarbeit heruntergefahren worden wäre.

Im Gegenteil: „Wir lassen uns die Jugendarbeit was kosten. Eine Jugendreferentin haben nur wenige“, sagt Walter mit Blick auf Franziska Griebel. Sie erlebt die Jugendarbeit vor Ort als sehr aktiv. Das Besondere sei, dass es nicht um Leistung gehe. „Jugendliche können hier einfach nur sein, ohne zu müssen, wie sonst fast überall.“ In einem geschützten Rahmen, ohne Missbrauch.