Seit er Ende Dezember seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl in der Ukraine verkündet hat, schwimmt Wolodymyr Selenskyj (Mitte) auf einer Welle des Erfolgs. Foto: dpa

Vom Komiker zum Hoffnungsträger: Wolodymyr Selenskyj wird vielleicht der nächste Präsident der Ukraine. Zumindest hat er den Amtsinhaber Petro Poroschenko bereits das Fürchten gelehrt.

Slowjansk - Im Leben von Olga Kirichenko gibt es wieder Hoffnung. Sie streicht mit den Fingerkuppen über einen Prospekt, auf dem „Wolodymyr Selenskyj“ steht. Der 41-jährige Schauspieler und Komödiant könnte nicht nur der nächste Präsident der Ukraine werden, sondern das Land retten, sagt Olga Kirichenko. Fünf Jahre nach dem Kriegsbeginn wird nun ein neuer Präsident gewählt – eine Schicksalswahl, wie Beobachter sagen. Auf dem Spiel stehen die angestoßenen Reformen, die Demokratisierung des Landes und seine Annäherung an die Europäische Union.

 

Die 37-jährige Olga Kirichenko gehört zu den freiwilligen Helfern in Selenskyjs Wahlbüro in Slowjansk, einer Stadt mit 110 000 Einwohnern im Osten der Ukraine. Im Erdgeschoss des sowjetischen Plattenbaus befindet sich ein Supermarkt, im ersten Stock ein Elektrofachhändler, gleich daneben wird die Social-Media-Strategie für Selenskyjs Wahlkampf entwickelt. Das Büro ist keine 20 Quadratmeter groß. Der Platz reicht für zwei Schreibtische im hinteren Bereich, wo Mobiltelefone im Minutentakt klingeln. An den Wänden hängen Plakate, gerahmte Fotos von Selenskyj und flaschengrüne Sticker mit den Anfangsbuchstaben seines Namens in der ukrainischen Schreibweise: „Ze!“

Sehnsucht nach wirtschaftlicher und politischer Stabilität

Immer wieder öffnet sich die Tür, neben der ein Wasserspender gurgelt. Mitarbeiter und Wähler kommen herein, sprechen sich ab oder stellen Fragen. Der ovale Holztisch in der Mitte des Büros ist überschwemmt mit Landkarten, Stadtplänen, Zeitungen und Listen der Wahlbezirke. Kirichenko sagt, ihr Team stelle keine Zelte in der Stadt auf. Und ihr Team verteile keine Formulare, in die sich die Wähler eintragen lassen können, um Geld überwiesen zu bekommen, so wie andere das tun. Selenskyj werde trotzdem gewinnen, ist sie überzeugt.

Seit fünf Jahren führt die Ukraine Krieg gegen von Russland unterstützte Separatisten. Die Menschen sehnen sich nach wirtschaftlicher und politischer Stabilität, nach Aufschwung, und danach, dass in ihrem Leben Normalität einkehrt. Mehr als 83 Prozent glauben, dass das Land eine radikale Veränderung braucht, einen Neuanfang. Und der wurde bereits eingeleitet. Am Abend des ersten Wahldurchgangs, am 31. März, kurz bevor die ersten Ergebnisse veröffentlicht werden, spielt Wolodymyr Selenskyj vor laufenden Kameras Tischtennis gegen einen Journalisten. Selenskyj verliert. Zum letzten Mal an diesem Abend. Mit 30,2 Prozent der Stimmen liegt er weit vor seinen Herausforderern.

Timoschenko empfinden viele als unehrlich

Der amtierende Präsident Petro Poroschenko erhielt rund 16 Prozent der Stimmen und Julija Timoschenko 13,4 Prozent. Während Poroschenko kürzlich bekannt gab, im vergangenen Jahr dank üppiger Dividenden und Unternehmensbeteiligungen noch reicher geworden zu sein, wurde die Ex-Oligarchin und Ex-Ministerpräsidentin Timoschenko zur Erstplatzierten im Ranking der unehrlichsten Politiker des Landes gewählt.

Darüber, was Selenskyj als Präsident der Ukraine vorhat, herrscht wenig Klarheit. Im Januar veröffentlichte er ein 15-seitiges Programm, dessen erster Satz lautet: „Ich erzähle dir von der Ukraine meiner Träume.“ Seine Forderungen nach einer Rückeroberung der besetzen Gebiete, einer Reform der Verwaltung und Antikorruptionsmaßnahmen bleiben vage. Der Umstand, dass ihn trotzdem so viele gewählt haben, zeigt, wie groß die Enttäuschung der Wähler über die etablierten Politiker ist. Nach jahrelangen autoritären Praktiken wünschen sich viele neben legitimen Institutionen und Reformen vor allem eins: Frieden.

In den Separatistengebieten wird immer noch gekämpft

„Selenskyj verdient sein Geld im Gegensatz zu den anderen Kandidaten auf ehrliche Weise“, sagt Kirichenko: „Er ist ein starker Mann. Er ist kein Clown, wie viele sagen.“ Wenn sie aus dem Fenster schaut, sieht sie den Hauptplatz von Slowjansk. Auf dem Sockel, wo einst eine Lenin-Statue stand, sitzen, rauchen und skaten an sonnigen Nachmittagen Teenager. Ein Mann führt ein Pony an staunenden Kindern vorbei. Blau-gelbe Flaggen wehen im Wind. In den Straßen haben kleine Cafés, Friseur- und Kosmetikläden neu eröffnet. Daran, dass vor fünf Jahren an diesem Ort der Krieg ausbrach, erinnert wenig.

Im Jahr 2014 errichteten maskierte und bewaffnete Männer hier ihre Barrikaden. Sie stapelten Sandsäcke und Reifen und hissten die russische Flagge. Dann stürmten sie die Polizeistation und ernannten einen Mann, der Kapuzenpullover und Baseballmütze trug, zum neuen Bürgermeister. Nach einigen Wochen wurde die Stadt durch die ukrainische Armee befreit.

Aber nur eine Autostunde entfernt wird heute noch immer gekämpft. Die Separatistengebiete Donezk und Lugansk stehen so wie die Krim außerhalb der Kontrolle der ukrainischen Regierung und werden politisch vom Kreml gelenkt. Laut den Vereinten Nationen sind bereits mehr als 13 000 Menschen gestorben, 30 000 wurden verletzt. Etwa 1,5 Millionen Menschen sind in die restlichen Gebiete des Landes, nach Kiew oder Slowjansk geflohen – so wie Olga Kirichenko.

„Wir hatten ein gutes Leben“

Im Sommer 2014, als ihre Eigentumswohnung gerade fertig renoviert und ihr erstes Baby auf dem Weg war, verlegten die prorussischen Separatisten ihre Artilleriegeschütze nach Makijiwka, eine Nachbarstadt von Donezk, wo Kirichenko griechische Dekorationsartikel für Büros und Restaurants verkaufte. Der Ehemann arbeitete bei der Bank. „Wir hatten ein gutes Leben“, sagt sie. Und plötzlich flogen Raketen über das Haus, sie zielten auf den Donezker Flughafen. Am ersten August packte das Ehepaar den Kinderwagen, Kleidung, nur das Allernötigste ins Auto und flüchtete. Die Tochter kam vier Wochen später in Mariupol zur Welt. Bald darauf zog die Familie nach Slowjansk. „Wir dachten, wir bleiben ein, zwei Monate und kommen dann wieder zurück“, sagt Kirichenko.

Was aus ihrem Laden und ihrer Wohnung geworden ist, weiß sie nicht. Es gibt niemanden, den sie danach fragen kann. Die meisten ihrer Freunde und Bekannten haben das Separatistengebiet ebenfalls verlassen. Sie alle versprechen sich viel von Selenskyj. „Ich hoffe, dass er Präsident wird und das Land reich macht“, sagt Kirichenko: „Dann werden die, die heute Separatisten sind, auch wieder zu uns gehören wollen. Sie werden uns anflehen, damit wir sie wieder aufnehmen.“

Ihr Smartphone zeigt ein Selfie mit Selenskyj

Selenskyj führt sowohl im Osten der Ukraine als auch im Zentrum und im Süden. Aktuellen Umfragen zufolge gehen 61 Prozent der Ukrainer davon aus, dass er der nächste Präsident des Landes wird. Eine rasante Entwicklung. Schließlich hatte er erst am 31. Dezember 2018 angekündigt, dass er dieses Amt anstrebt. Der Schauspieler ist in der Ukraine ein Star, er begeistert die Massen mit seinen populären Stand-up-Comedy-Shows und TV-Serien – allesamt gespickt mit satirischen Seitenhieben auf die Mächtigen und Reichen des Landes. An den meisten Orten, an denen er im Vorfeld zur Wahl auftrat, legte er zwei Aufführungen hin – jeweils eine kostenlose für die Soldaten, Flüchtlinge, freiwilligen Helfer und kinderreichen Familien.

„Als ich ihn zum ersten Mal live gesehen habe, kamen so viele Emotionen in mir hoch – als würde er mir mit seinen Songs und Worten aus der Seele sprechen“, sagt Kirichenko mit leuchtenden Augen, wischt über den Bildschirm ihres Smartphones und zeigt ein Selfie mit Selenskyj. Seine Kritiker ätzen, Selenskyj sei selbst eine Marionette – in den Fängen eines Oligarchen namens Igor Kolomoisky. Gegen ihn ermittelt das FBI gerade wegen des Verdachts auf Geldwäsche. Kolomoisky besitzt den TV-Sender 1+1, der die Serie „Diener der Nation“ ausstrahlt. Selenskyj spielt darin die Hauptrolle, einen Geschichtslehrer, der plötzlich zum Präsidenten der Ukraine wird. In der Serie geht er schonungslos die Probleme des Landes an, seine Schulfreunde ernennt er zu seinen Ministern, zusammen reformieren sie das Land. Er ist die ehrliche und moralische Instanz, eine gute Seele, etwas schusselig, sympathisch, gebildet, einer aus dem Volk. Perfekter könnte das Szenario nicht inszeniert sein. Ob es real wird, entscheidet sich am 21. April.