Die Katastrophe in der Türkei und in Syrien spielt Baschar al-Assad in die Karten. Kaltblütig versucht der Präsident, das Erdbeben für seine Zwecke auszunutzen. Auch eine alte Forderung steht nun wieder im Raum: die Aufhebung der westlichen Sanktionen.
Die Helfer der Weißhelme graben sich vorsichtig durch die Trümmer eines Hauses in dem Dorf Bisnia in der syrischen Rebellenprovinz Idlib. Dann brechen sie in Jubel aus: Sie können eine fünfköpfige Familie fast unverletzt aus dem Haus ziehen, wie ein Video der Hilfsorganisation zeigt. Solche Erfolge sind allerdings selten. Die Hilfe im Erdbebengebiet in Syrien wird nicht nur durch das Winterwetter und einen Mangel an schwerem Gerät behindert, sondern auch durch machtpolitische Winkelzüge von Präsident Baschar al-Assad in Damaskus.
Mehr als 2600 Menschen kamen im Norden Syrien ums Leben
Mehr als 2600 Menschen kamen im Norden Syriens bei dem Erdbeben vom Montag ums Leben. Etwa die Hälfte von ihnen starb in Assads Herrschaftsbereich um die Wirtschaftsmetropole Aleppo, die andere Hälfte der Opfer wurde in der Provinz Idlib und anderen Teilen des Rebellengebietes im Nordwesten des Landes an der Grenze zur Türkei gezählt, wo sich vier Millionen Menschen vor Assads Truppen in Sicherheit gebracht haben.
Die Straßen zum einzigen Grenzübergang sind unpassierbar
Kaltblütig versucht Assad, die Katastrophe für seine Zwecke auszunutzen. Ein Weg dafür bietet sich für ihn durch die Zerstörungen auf der türkischen Seite der Grenze. Die türkischen Straßen nach Bab al-Hawa, dem einzigen Grenzübergang für UN-Hilfslieferungen nach Idlib, sind nicht mehr passierbar, der Flughafen im türkischen Hatay, auf dem normalerweise viele Hilfsgüter für Idlib ankommen, ist wegen Erdbebenschäden geschlossen: Idlib ist von der UN-Hilfe abgeschnitten. Derzeit müssen UN-Hilfsorganisationen dort auf ihre Vorräte an Medikamenten und anderen Hilfsgütern zurückgreifen, doch die reichen nur für kurze Zeit.
„Wir verbrauchen derzeit unserer Vorräte“, sagte Fadel Hijazi, Koordinator für die Bereiche Gesundheit und Ernährung bei der Hilfsorganisation Hihfad im Nordwesten Syriens. Hijazis Teams brauchen Medikamente und Nahrungsmittel, aber vor allem werde im Nordwesten Syriens schweres Räumgerät benötigt: „Viele tausend Menschen liegen noch unter den Trümmern. Ganze Straßenzüge wurden zerstört.“
Damaskus stellt Bedingungen
Die Vereinten Nationen (UN) verhandeln deshalb mit Assads Regierung über Hilfslieferungen nach Idlib über syrisches Regierungsgebiet, doch Damaskus stellt Bedingungen. Natürlich könne die Hilfe nach Idlib rollen, sagte Außenminister Faisal Mekdad dem libanesischen Fernsehsender Al-Majadin. Voraussetzung sei allerdings, dass die Hilfsgüter nicht den „Terroristen“ in der Rebellenprovinz in die Hände fielen. Da Assad alle Gegner als „Terroristen“ bezeichnet, könnte diese Bedingung die UN-Lieferungen über syrisches Regierungsgebiet behindern, wenn nicht unmöglich machen.
Assad sucht schon lange nach einem Weg, die Rebellen in Idlib erpressen und aushungern zu können. Sein Verbündeter, Russlands Präsident Wladimir Putin, hat deshalb im UN-Sicherheitsrat bis auf Bab al-Hawa alle Grenzübergänge aus der Türkei, dem Irak und aus Jordanien ins Rebellengebiet für die UN-Lastwagen sperren lassen. Der Westen fordert, weitere türkische Übergänge für die Erdbebenhilfe zu öffnen, doch bis jetzt gibt es dafür keine Genehmigung aus Moskau und Damaskus.
Assad fordert die Abschaffung aller Sanktionen
Das Erdbeben bietet Assad zudem die Möglichkeit, eine andere Forderung neu zu beleben: Seine Regierung macht die westlichen Sanktionen gegen sein Regime für das Elend im syrischen Erdbebengebiet verantwortlich und fordert die Abschaffung aller Strafmaßnahmen. Die Sanktionen hätten die Lage nach dem Erdbeben verschlimmert, sagte Außenminister Mekdad. Die Hilfsorganisation Roter Halbmond erklärte, wegen der westlichen Sanktionen habe Syrien nicht genug Treibstoff, um Hilfskonvois ins Erdbebengebiet zu schicken.
Syrien versucht, die internationale Isolation aufzuweichen
Assad versucht auch, die internationale Isolation seines Regimes wegen des langen Bürgerkrieges weiter aufzuweichen. Seine Regierung hat in den vergangenen Tagen zwar bei Weitem nicht so viel internationale Hilfe erhalten wie der Nachbar Türkei, doch völlig allein steht Syrien nicht. Bergungsteams aus Algerien trafen in Syrien ein, und auch Russland, Libyen, der Iran, der Irak, Indien und sogar enge Partner des Westens wie Ägypten, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) schicken Hilfe. Die Vereinigten Arabischen Emirate wollen Syrien außerdem 50 Millionen Dollar an Finanzhilfe zukommen lassen. China schickt auch vier Millionen Dollar nach Damaskus. Am Dienstag beantragte Syrien offiziell Hilfe bei der Europäischen Union.
Ob Assad mit seiner Taktik durchkommt, ist offen. Bislang lehnt der Westen jede Zusammenarbeit mit dem syrischen Machthaber ab. Unter Assads Regime könnten die Menschen in Syrien „auf keine Hilfe hoffen“, sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Gebraucht werde ein „humanitärer Zugang“ in Syrien. Das US-Außenministerium erklärte, es wäre „kontraproduktiv“, das Assad-Regime in die Hilfe einzubinden. Washington will Assad keine Möglichkeit geben, Lieferungen für den Nordwesten Syriens zu kontrollieren.
Ziel der US-Regierung sei, Hilfe „ohne direkten Kontakt mit dem Assad-Regime“ zu den Bedürftigen zu bringen, sagte der Nahostexperte und frühere UN-Berater Joe Macaron gegenüber unserer Zeitung. Eine Kooperation mit Assad sei da schwer vorstellbar.
Die Pattsituation verschlimmert das Leid der Erdbebenopfer weiter, wie Qutaiba Idlibi, Syrien-Experte bei der US-Denkfabrik Atlantic Council, auf Twitter schrieb: Das Einzige, was derzeit über den Grenzübergang Bab al-Hawa nach Nordwestsyrien gelange, seien Leichen von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei, die beim Erdbeben getötet wurden.