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Kunstvoll betextet  sagt auch die billigste Postkarte mehr als tausend E-Mail-Worte.

Stuttgart - Bildpostkarten aus dem Urlaub schicken, das ist mittlerweile so angesagt wie Tennissocken in Sandalen. Dabei ist der gepflegte Kitsch näher an der Kunst als viele Handyfotografen glauben. Eine postalgische Hommage an eine künstliche Urlaubswelt.

Wer hätte das je gedacht? Das Urlaubskärtchen, es fehlt, wird tatsächlich vermisst. Aus dem Briefkasten segelt schon den zweiten Sommer alles Erdenkliche heraus, Amtliches, Werbliches, Sinnloses, nur eine bekritzelte, bestempelte, mit besten Wünschen bestückte Ansichtskarte findet sich nicht mehr in der Post. Stattdessen fluten aus allerlei Gerätschaften piepsend hervor: elektronische Grüße und digitale Bilderserien aus fernen Ferienwelten. Bekannte und Verwandte, die ihre grienenden Gesichter mit ausgestrecktem Arm fotografieren und spontan zigfach hinaussenden, von rudimentären, meist unwitzigen Textfetzen begleitet, da wird das Urlaubsidyll zur Nebensache.

Ansichtskarten werden nach wie vor geschätzt

Die verkitschten Strandimpressionen, das blendend grüne Almenglück, der nachkolorierte Sonnenuntergang vom San Sowieso oder Monte Tralala, sie sind allmählich passé, auch wenn die Deutschen, zumal die Älteren, die Ansichtskarte nach wie vor schätzen.

Die Boomzeiten waren um 1900. Die Eisenbahn verhalf den Menschen seinerzeit zu neuer Mobilität, die Post wurde auf einmal schnell und zuverlässig transportiert. Zudem kam die Lithografie, das Kunsthandwerk des Fin de Siècle, auf der Ansichtkarte massenweise zum Einsatz. Es waren die bildenden Künstler, vor allem die Jugendstilvertreter, aber auch die Künstler des Blauen Reiters, die die Postkarte als praktisches Medium ihrer Mal-Art entdeckten.

Deutsche waren Weltmeister im Schreiben

Generell lässt sich aber sagen: Gerade die Deutschen sind nicht nur weltmeisterlich, wenn es ums Reisen geht, sondern waren auch jahrzehntelang die Nummer eins beim Schlangestehen am Kartenständer in Rimini oder Maspalomas. Doch mittlerweile klagen die Produzenten über Umsatzrückgänge - gegen die virtuelle Bilderkonkurrenz via SMS, E-Mail und MMS kommt nun mal kein bunter Karton an.

Was bleibt? Eine Postalgie, die im Grunde eine verdächtige Utopie ist. Auf der Ansichtskarte war die schönste Zeit des Jahres nämlich unwirklich schön, oder besser: bis zur Augenschmerzgrenze irreal. Die Strände immer sauber, die Berge stets einsam, der Himmel vollendet wolkenfrei - Ansichtskarten waren wie gemacht für Lügenbolde, Träumer und Dichter.

Jurek Becker war von Postkarten besessen

Schon dieser heuchlerischen Qualität wegen provozierte die doppelseitige Pappe in DIN-A6-Format den schreibenden Kulturmenschen im Besonderen. Höchste dekonstruktivistische Weihen erfuhr die Postkarte durch den französischen Philosophen Jacques Derrida, dem die "Tragik der Verspätung" der konventionellen Postsendung sinnbildlich für jeden misslingenden Verstehensversuch ist. So wie die Schrift auch immer spät, eben später als das gesprochene Wort ins Bewusstsein dringt, verweist auch die Postkarte auf eine kaum wahrnehmbare Spur des Sinns. Auch bemerkte Derrida klug, dass man bei einer Ansichtskarte nie wisse, was oben, was unten ist, was wichtiger sei: Bild oder Schrift.

Eine weniger reflektierte, dafür liebevolle und ans Herz gehende Kommentierung eines Motivs geht auf den Schriftsteller Jurek Becker zurück, der von Postkarten geradezu besessen war. Tiere, Menschen, Gegenstände, Gemälde, selten Städte waren die bevorzugten Motive des 1997 verstorbenen Autors, der mit "Jakob der Lügner" einen der vortrefflichsten Romane über die Macht der Fantasie hinterlassen hat.

Postkarten schaffen Nähe

Der Empfänger der Post hieß sehr oft Johnny - Beckers kleiner Sohn. Auf einer skurrilen Karte aus den 90er Jahren ist ein Mann zu sehen, der unter den Vorderbeinen eines Elefanten eingeklemmt ist, ein zweiter kniet neben ihm. "Mein lieber Kullerpfirsich", schreibt Jurek Becker, "du fragst Dich, was der Mann unter dem Elefanten zu suchen hat, dabei ist das ganz klar: Der Auspuff des Elefanten war kaputt und musste gelötet werden. Und der andere Mann fragt, wie lange es noch dauert, denn er hat es eilig und will auf dem Elefanten in den Urlaub reiten. Diesen Geburtstagsquatsch erzählt Dir dein Papa, der Dich Du weißt schon".

Becker verschickte Stapel solch witzigpoetischer Botschaften von seinen unzähligen Lesereisen, die einerseits Nähe zu den fernen Liebsten schaffen sollten, zum anderen aber auch banale Bildmotive durch Texte adeln, die mehr sein wollen als nur eine Mitteilung, dass Wetter und Küche bestens sind. Anders als Jurek Becker, der mittels Bildinterpretationen in der gemeinen Künstlichkeit eine intime Kunstwahrheit suchte und fand, konnte Rolf Dieter Brinkmann, der Hipster des deutschen Literaturbetriebs der 70er, nicht umhin, in bester Benjamin'scher Tradition den Kulturpessimisten zu geben. Seine Lektürestrategie war die des entlarvenden Blicks. In "Rom, Blicke" steht unter einer Postkarte aus Olevano: "Der Platz, in den Du auf der Karte schaust, erscheint groß, doch die Aufnahme, jede Fotografie lügt, macht alles schön, tatsächlich ist der Platz eng und klein."

Italien als Postkarten-Republik

Brinkmann, der des Deutschen Sehnsuchtsziel Italien auch als "PostkartenRepublik" bezeichnet hat, fotografierte lieber selbst, verewigte den Verfall Roms oder triste Reklamewände als sich auf die Aufhübschungen der Tourismusindustrie zu verlassen. Der fotografierende Schriftsteller tat als einer der Ersten das, was heutzutage jeder halbwegs Ironiebegabte mit dem Handy inflationär macht: absichtlich falsch abdrücken, die Unsehenswürdigkeit ablichten, auf Facebook hochladen. Schon deshalb ist das keine Kunst mehr.

Womöglich ist es nun höchste Urlaubszeit, der greisen Bildpostkarte, die längst in Literaturmuseen (als Autografenspeicher), neben Toiletten in Bars und Clubs (als Veranstaltungshinweis) sowie in Museumsshops (als Kunstpostkarte) ihren Ruhestand genießt, respektvoller zu begegnen. Ihren illusorischen Reiz inmitten unserer Bilderflut des gewollt Authentischen wieder schätzen zu lernen. Sich in Erinnerung zu rufen, dass Künstlichkeit von Kunst kommt.