Ein nur 1,42 Meter großes Kraftpaket mit strahlend weißem Lächeln: Simone Biles Foto: Getty

Eine schwere Kindheit mit alkoholkranker Mutter, später Missbrauch durch den Teamarzt: Hinter Simone Biles liegt ein harter Weg. Nun ist sie ganz oben. Die US-Amerikanerin hat die Grenzen des Turnens verschoben. Das Porträt einer Jahrhundertsportlerin.

Doha - Sie hat diesen Satz gesagt und dabei fröhlich gelacht. Vielleicht war Simone Biles in diesem Moment die Doppeldeutigkeit nicht klar. Vielleicht jedoch hatte sie das Statement auch ganz bewusst gesetzt: „Ich habe überlebt.“

 

Das konnte sich natürlich auf den Wettkampf beziehen, auf diese Weltmeisterschaften von Doha, die für die 21-Jährige sehr anstrengend waren. Innerhalb von nur acht Tagen absolvierte die Ausnahmeturnerin viermal ihr komplettes Programm, gewann Gold mit dem US-Team, im Mehrkampf, am Sprung und am Boden und heimste in den beiden anderen Entscheidungen noch Silber am Stufenbarren sowie Bronze am Schwebebalken ein.

Positive Schlagzeilen nach dem Missbrauchsskandal

Dabei war der Druck höllisch gewesen bei diesem Comeback nach einer einjährigen, der körperlichen und psychischen Erholung dienenden Pause, die sie nach ihren vier Olympiasiegen von Rio de Janeiro eingelegt hatte. Jeder erwartete von der bis dahin schon dreimaligen Mehrkampf-Weltmeisterin Großes: einen gewohnt starken Auftritt an den Geräten, aber auch so etwas wie die Rettung der eigenen Sportart im Land.

Denn nach dem Missbrauchsskandal um den früheren Teamarzt Larry Nassar braucht US Gymnastics positive Schlagzeilen. Der Verband steht vor dem Ruin, weil die Sponsoren absprangen und Millionenklagen gegen ihn laufen. Für die Stars war Turnen in den USA stets eine lohnende Sache. Die Sportart erfreut sich großer Popularität, zahlreiche kleine Mädchen eifern in teuer zu bezahlenden Übungseinheiten ihren Idolen nach, die Gelder flossen.

Die herausragende Bilanz: 14 Goldmedaillen bei Weltmeisterschaften

Biles war bei ihrem internationalen Debüt 2013 höchstens kurz eine von mehreren, dann hat sie alle übertroffen. Bereits in ihrem ersten Jahr sicherte sie sich bei der WM in Antwerpen den Mehrkampf- und den Bodentitel. Seitdem ist sie in diesen beiden Disziplinen auf der großen Bühne ungeschlagen und mit vier Kronen in der Vielseitigkeit Rekordsiegerin. Doch sie fügte im Laufe der Zeit weitere Triumphe hinzu. 14 Goldmedaillen bei Weltmeisterschaften umfasst ihre Bilanz jetzt.

Dort, wo die Bewegungskunst im Ansehen der Öffentlichkeit weiter vorne steht, gilt sie längst als eine der überragenden Persönlichkeiten im Sport insgesamt. Vergleiche lehnt sie ab. Schon bei den Olympischen Spielen in Rio sagte die charmante junge Dame, darauf angesprochen, sie wolle weder der nächste Usain Bolt noch der nächste Michael Phelps sein: „Ich bin die erste Simone Biles.“

Zwei Elemente sind nach Simone Biles benannt

Ein nur 1,42 Meter großes Kraftpaket mit strahlend weißem Lächeln, eine Powerfrau, die dank ihrer außerordentlichen Athletik und enormem Sprungvermögen Höhenflüge bewältigt, die außer ihr keine andere schafft. Schon vor längerer Zeit hat sie am Boden einen gestreckten Doppelsalto rückwärts mit halber Schraube kreiert, der ebenso unter ihrem Namen im Erfinderbuch einen Eintrag hat wie ihn jetzt auch ihr neuer Sprung erhält, ein Jurtschenko mit halber Schraube in der ersten Flugphase und einem gestreckten Salto mit doppelter in der zweiten.

Sie ist keine elegante Tänzerin wie die Russin Alija Mustafina, eine ihrer noch immer aktiven Vorgängerinnen auf dem Mehrkampfthron, keine schlanke Gymnastin mit hoher Flexibilität und exakter Technik, sondern ein muskulöser Flummi, der seine eigene Dynamik kaum kontrollieren kann. So hüpft sie am Ende ihrer spektakulären Akrobatik am Boden schon mal weit aus der Fläche hinaus und kassiert dafür Abzüge. Doch die Schwierigkeiten ihrer Vorträge hat sie so hoch geschraubt, dass sie trotzdem unangetastet bleibt.

Coach Laurent Landi gibt Einblicke

Ihre Fans haben ihre Patzer im Mehrkampffinale gestört, sie haben ihr Vorbild in den sozialen Medien dafür kritisiert, dass es am Sprung und am Schwebebalken stürzte. Biles hat das als unfaire Störung empfunden: „Sie können keine Erwartungen an mich stellen, das muss ich schon selbst machen“, hat sie dazu gesagt.

Dafür arbeitet die Ehrgeizige äußerst hart. „Es ist großartig, mit ihr zu trainieren“, erzählt Coach Laurent Landi. Dem Franko-Amerikaner und seiner Frau Cecile hat Biles sich vor einem Jahr anvertraut. Zuvor war Aimee Boorman ihre Lehrmeisterin gewesen. Sie hatte das Talent früh entdeckt und seit dessen siebten Lebensjahr betreut. Damals hatte die in Ohio geborene Afroamerikanerin schon eine schwere Kindheit zu verarbeiten. Als Dreijährige waren sie und ihre drei Geschwister ihrer Mutter weggenommen worden, weil diese alkohol- und drogenkrank war. Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Adria wurde sie vom in Texas lebenden Großvater adoptiert. Hier fand sie zu der Leidenschaft, die bis heute die ihre geblieben ist.

Volle Konzentration auf den Sport

Um sich besser auf den Sport zu konzentrieren, erhielt sie Privatunterricht. Was sie dadurch vermisste, die Freundschaften außerhalb der Halle und den Schulgang, ersetzte sie durch Erfolg. „Natürlich hat sie extreme Fähigkeiten“, erklärt Landi. „Aber ihre Stärke ist, was in ihrem Kopf passiert. Das beeindruckt mich am meisten.“ Biles, die sich meist klug und freundlich äußert, besitze ein „sehr großes Verständnis für ihren Körper“, zudem einen hellwachen Geist. Wenn all das zusammentreffe, „dann sehen wir eine großartige Simone“. Wenn es trotz intensiver Fokussierung doch mal an etwas mangele, sei sie aber immer noch sehr gut.

Die Sportlerin selbst hat nach der WM gesagt, dass es ihr vor allem am Schwebebalken, wo sie gleich mehrmals patzte, vielleicht noch ein wenig an Vertrauen fehlte. Dass sie dieses jedoch jetzt wieder spüre. Andere Querschüsse, die ihr auf dem Weg zurück zur Mehrkampfkrone in den Weg kamen, parierte sie souverän.

Ihren Nierenstein lächelt sie weg

Den Nierenstein etwa, der ihr vor dem Vorkampf Schmerzen bereitete und einen nächtlichen Besuch im Krankenhaus bescherte, lächelte sie weg und benannte ihn, angelehnt an die künstlich erschaffene Luxusinsel vor der Küste, als „Perle von Doha“. „Sie war schon sehr nervös bei ihrer Rückkehr auf die große Bühne“, hat Landi verraten. Und obwohl sie in seinen Augen „einzigartig“ sei: Wie jeder Mensch mache auch Biles Fehler. „Es war schwer für sie, nach der Pause wieder in den Rhythmus zu kommen. Und das Ganze ein bisschen viel für den Kopf.“

Das Ganze – damit war bei einem der wenigen US-Vertreter, die zu den Vorfällen um den zu lebenslanger Haft verurteilten Nassar während der WM-Tage Stellung bezogen, der Schatten gemeint, der zwei Jahre nach den ersten Veröffentlichungen zum Missbrauchsskandal auf dem Team noch immer lastet. Biles hatte sich zu Jahresbeginn per Twitter als eines von mehreren hundert Opfern erklärt, aber nie vor Gericht ausgesagt. Sie fand ihren eigenen Weg der Verarbeitung. Dort, wo sie sich am wohlsten fühlt und über die überzeugendsten Ausdrucksmittel ihrer individuellen Stärke verfügt. Schon als Kind hatte sie, die in früheren Jahren wegen der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung ADHS medikamentös behandelt worden war und dafür eine Ausnahmegenehmigung der Anti-Doping-Behörde besaß, ein Trauma mit sportlicher Leistung bekämpft. Nun hat sie zu dieser Selbstheilungsmethode zurückgefunden und zeigt sich stärker denn je.

Bei den nationalen Titelkämpfen hatte sie im August erstmals alle fünf Einzeltitel gewonnen. In einem Turntrikot in Blau-Grün, der Farbe der Opfer des Missbrauchs. Sie nennen sich Survivors – Überlebende.