Daumen hoch: Christine Lagarde hat schon einige Spitzenämter erfolgreich absolviert. Foto: dpa

Mit Christine Lagarde wird bei der Europäischen Zentralbank wohl ein neuer Führungsstil einziehen – aber keine höheren Zinsen.

Frankfurt - Sag niemals nie. Christine Lagarde hat diesen Ratschlag nicht beherzigt: „Nein, nein, nein, nein, nein, nein“, sagte die Chefin des Internationalen Währungsfonds noch im vergangenen Herbst, als die britische Zeitung „Financial Times“ sie nach einem etwaigen Wechsel zur Europäischen Zentralbank (EZB) fragte. Nun soll die 63-jährige Französin doch die Führung der Notenbank übernehmen. Formal müssen zwar noch der EZB-Rat und das Europaparlament angehört werden, doch nach der schwierigen Kompromisssuche in Brüssel dürften diese die Entscheidung der EU-Staats- und -Regierungschefs akzeptieren.

 

Aller Voraussicht nach wird Lagarde also am 1. November die Nachfolge des scheidenden EZB-Präsidenten Mario Draghi antreten, als erste Frau auf diesem Posten. Diese Rolle kennt Lagarde schon: 1999 war sie die erste Chefin der US-Anwaltskanzlei Baker & McKenzie, nach ihrem Wechsel in die französische Politik stieg sie 2007 zur ersten Finanzministerin in der Gruppe der sieben führenden Industriestaaten auf. Im Kampf gegen die Folgen der weltweiten Finanzkrise stand sie damit an vorderster Front. Das war die Zeit, in der die hochgewachsene, elegante Französin internationales Renommée erlangte. Souverän, schlagfertig und humorvoll – mit diesem Auftreten gewann Lagarde sogar die Sympathie ihres deutschen Amtskollegen Wolfgang Schäuble (CDU), obwohl die beiden politisch nicht immer einer Meinung waren.

Immer wieder legte sich die IWF-Chefin mit der Bundesregierung in Berlin an

Als 2011 der damalige IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn wegen Vergewaltigungsvorwürfen zurücktreten musste, war seine Landsfrau Lagarde eine naheliegende Wahl für die Nachfolge. Doch wenig später holte sie eine Affäre aus der Vergangenheit ein: Als Ministerin hatte sie 2008 einem Schiedsspruch zugestimmt, der dem Unternehmer Bernard Tapie eine Entschädigung von 400 Millionen Euro auf Kosten des Staates zugestand. Dass sie diesen Schiedsspruch akzeptierte, trug ihr Ermittlungen wegen mutmaßlicher Begünstigung Tapies ein.

Dieser hatte der einstigen Staatsbank Crédit Lyonnais vorgeworfen, ihn 1993 beim Verkauf des Sportartikelherstellers Adidas übervorteilt zu haben. Die Entschädigung des politisch bestens vernetzten Unternehmers wurde 2015 von einem Gericht für ungültig erklärt. Lagarde wurde der „Fahrlässigkeit“ im Umgang mit öffentlichen Geldern für schuldig befunden, ging aber straffrei aus. Ungeachtet des Gerichtsverfahrens wurde sie vom IWF-Exekutivdirektorium 2016 für eine zweite fünfjährige Amtszeit ernannt – mit Unterstützung aus Berlin.

Das hinderte Christine Lagarde allerdings nicht daran, sich mit der Bundesregierung anzulegen: Immer wieder hat die IWF-Chefin von Deutschland höhere Staatsausgaben gefordert, um den Binnenkonsum anzukurbeln und damit den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss zu verringern. Auch mit Blick auf die Notenbanken plädierte die Französin in den vergangenen Jahren stets dafür, das Geld mit vollen Händen auszugeben: Die hierzulande heftig umstrittenen Entscheidungen der EZB, vom Kauf von Staatsanleihen bis hin zu Minuszinsen, trafen beim IWF auf Beifall. „Lagarde steht als Nachfolgerin Draghis für Kontinuität“, folgert Grégory Claeys von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Ähnlich äußerte sich der für Europa zuständige Chefvolkswirt der Fondsgesellschaft DWS, Martin Moryson: „Es spricht vorerst alles f ür ein weiter lang anhaltendes Niedrigzinsumfeld.“

Schon wieder eine Politikerin: Kritiker sehen eine Gefahr für die Unabhängigkeit der EZB

Da von den niedrigen Zinsen besonders die hochverschuldeten Staaten im Süden Europas profitieren, stieß Lagardes Vergangenheit als Finanzministerin bei einigen Kommentatoren auf Kritik. Sie verweisen auf ein Zitat von 2010. Lagarde soll damals mit Blick auf die Hilfskredite für Griechenland gesagt haben: „Wir haben alle Regeln verletzt, weil wir zusammenhalten und die Eurozone retten wollten.“

Eine Gefahr für die Unabhängigkeit der EZB sehen Kritiker auch darin, dass mit der Entscheidung für die Französin schon der zweite Spitzenposten an eine Persönlichkeit aus der Politik geht: Zum Vizepräsidenten der Notenbank war vergangenes Jahr der ehemalige spanische Wirtschaftsminister ernannt worden.

„Derartige Warnungen gibt es jedes Mal, wenn jemand aus der Politik oder einem Ministerium in eine Notenbank wechselt“, sagt dazu Hans Peter Grüner, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Mannheim. In der Vergangenheit hätten sie sich aber nicht immer bewahrheitet – schließlich habe auch der heutige Bundesbankpräsident Jens Weidmann, ein entschiedener Verfechter einer unabhängigen Geldpolitik, früher im Kanzleramt gearbeitet. „Auch Frau Lagarde traue ich zu, dass sie sich unabhängig gebärdet“, sagte Grüner unserer Zeitung.

Für bedenklich hält er eher, dass Lagarde keine Ökonomin, sondern gelernte Juristin ist: „Für einen EZB-Chef ist schon von Vorteil, wenn er über Theorien des Geldwesens mit den Experten im eigenen Haus auf Augenhöhe diskutieren kann.“

Für die Suche nach Kompromissen bringt Lagarde die besten Voraussetzungen mit

Der DWS-Analyst Moryson glaubt, Lagarde werde mangels eigener Erfahrung als Zentralbankerin stärker auf ihre Kollegen im EZB-Rat hören als ihr Vorgänger: „Mario Draghi hat immer wieder Tatsachen geschaffen, indem er mit zuvor nicht abgesprochenen Aussagen vor die Presse trat. Lagarde hingegen dürfte stärker bemüht sein, ihre Entscheidungen auf den vorigen Konsens des EZB-Rats zu stützen.“ Das immerhin könnte ein Vorteil für interne Kritiker wie Bundesbankchef Weidmann sein, der im Rat über Einfluss, aber keine Mehrheit verfügt.

Für die Suche nach Kompromissen bringe Lagarde die besten Voraussetzungen, sagt Bruegel-Experte Claeys: „Ihr diplomatisches Geschick dürfte sehr hilfreich sein.“ Klar sei allerdings: Wenn in einer Krise schnelles Handeln erforderlich sei, würden sich kontroverse Beschlüsse nicht vermeiden lassen.

Konfliktpotenzial deutet sich bereits an: Der amtierende EZB-Chef Draghi hat Mitte Juni erklärt, wenn die schwächelnde Konjunktur nicht wieder anziehe, würden „zusätzliche Anreize benötigt“. Die EZB könnte die Leitzinsen noch weiter senken, und auch Anleihekäufe blieben eine Option. An den Börsen wetten Anleger bereits darauf, dass Lagarde Draghis Kurs folgen wird: Der deutsche Leitindex Dax und sein Pendant für den Euroraum, der Euro-Stoxx 50, legten nach der Nominierung der Französin deutlich zu.