Immer schön ans Netz: Laura Siegemund spielt ein etwas anderes Tennis Foto: AFP

In 40 Jahren hat der Porsche Tennis Grand Prix von Stuttgart viele denkwürdige Endspiele erlebt. Der Erfolg von Laura Siegemund ist nicht nur für Bundestrainerin Barbara Rittner ein „zuvor nicht ­erlebtes Drama“. Die Erfolgsgeschichte von Laura Siegemund setzt sich aus vielen Kapiteln zusammen.

Stuttgart - Ihr Spiel: Stops, Slice, Volleys gehören fast schon zu den Anachronismen im Spitzen-Tennis. Harte Grundlinienschläge dominieren bei den Männern wie bei den Frauen. Nicht so bei Laura Siegemund. Die Sensations-Siegerin von Stuttgart spielt anders: Kreativ, unberechenbar, mit stetem Zug zum Netz. Oder wie es Bundestrainerin Barbara Rittner es formuliert: „Sie nimmt die Zuschauer auf eine Abenteuer-Tour mit.“ Gewiss, die Spielform birgt Risiken. Aber einmal im Flow – wie bei diesem Turnier – kann sie ihre Gegnerinnen auch zur Verzweiflung bringen. Weil sie schlicht nicht darauf eingestellt sind. „Viele können keinen ordentlichen Volley mehr spielen“, sagt die frühere Profi-Spielerin Claudia Kohde-Kilsch. Folglich hat die aktuelle Generation auch Probleme, ebendieses Spiel mit Passierschlägen zu kontern. Das Finale gegen die mit den besseren Grundschlägen ausgestattete Kristina Mladenovic gewann die 29-Jährige auch am Netz. Ihre Psyche: Jeder, der selbst schon einmal zum Schläger gegriffen hat, weiß: Tennis wird zu 50 Prozent im Kopf entschieden. Daher kann sich man sich ungefähr vorstellen, wie es sich anfühlen muss, im wichtigsten Spiel des Turniers beim Stande von 5:4, 15:30 im entscheidenden Satz eine umstrittene Entscheidung der Schiedsrichterin gegen sich zu kassieren. Mariana Alves bewies wenig Fingerspitzengefühl (andere nennen es konsequent), als sie Siegemund unter den Buh-Rufen des Publikums einen Punktabzug aufbrummte. Doch Siegemund, die ein Fern-Studium in Sportpsychologie absolviert hat und das englische Confidence (Selbstvertrauen) zu ihren Lieblingsvokabeln zählt, ließ sich auf der Zielgeraden des Matches nur kurz aus der Ruhe bringen. Wie das ging? „Man muss die Schiedsrichterentscheidung akzeptieren, nach vorne schauen und alles andere ausblenden.“, Ihrer Gegnerin gelang das weniger gut: Mladenovic empfand den Schlussakt in der aufgeheizten Atmosphäre als „Albtraum“. Ihre Kondition: „Immer, wenn mir das Wasser bis zum Hals stand, konnte ich noch eine Schippe drauf legen.“ Damit ist eigentlich alles gesagt. Im Viertelfinale rang Siegemund im längsten Match des Turniers nach 3:09 Minuten die Nummer drei der Welt, Karolina Pliskova, nieder. Bis zum Finale stand die Dauerläuferin aus Stuttgart-Heslach fast neun Stunden auf dem Platz, zwei mehr als ihre Gegnerin. Trotzdem gingen ihr die Körner nicht aus. „Sie hat Kräfte mobilisiert, die eigentlich gar nicht da waren“, zollte ihr Turnierchef Markus Günthardt Respekt. Was wiederum viel mit dem Kopf zu tun hat. „ Das Publikum hat mich schon auch durch das Turnier getragen“, lobte Siegemund die Zuschauer in der Porsche-Arena, die bei jedem ihrer Auftritte für Heimspielatmosphäre sorgten. Hinzu kommt: Ihre Spielweise erfordert per se ein höheres Laufpensum, Kondition ist also Teil des Erfolgs-Prinzips und wird auch in den Tagen nach dem Triumph erforderlich sein: Es gilt, 360 Glückwunsch-Nachrichten zu beantworten. Ihr Verhalten: Bei der 40. Auflage des Turniers zeigte die strahlende Siegerin wieder einmal all ihre Gesichter: Da ist einmal der lustige Lockenkopf mit den Kniestrümpfen, der in Sieger-Interviews auf dem Platz die Menge bestens zu unterhalten weiß. Journalisten erleben Siegemund in den Presserunden dagegen eher zurückhaltend. Oder um es im Sportler-Deutsch zu sagen: Extrem fokussiert. Und dann ist da noch die Laura Siegemund auf dem Tennisplatz. Die Ballmädchen nach jedem Ballwechsel um ihr Handtuch bittet. Und die immerfort auf ihren Vorteil bedacht ist. So gut wie jeden engen Ball lässt sie überprüfen. Zwischen den Ballwechseln lässt sie sich aufreizend viel Zeit, was ihr im Finale auch besagten Punktabzug einbrachte. Sollte Brad Gilbert einmal eine Neuauflage seines Klassikers „Winning Ugly“ schreiben, Laura Siegemund böte Anschauungsunterricht. Andererseits: Mit nett sein gewinnt man keine Pokale. Ihre Geschichte: Mit zwölf Jahren wurde die gebürtige Filderstädterin als neue Steffi Graf gehandelt. Dieser Vergleich war noch für keine Spielerin von Nutzen. So geriet auch die Karriere der Laura Siegemund irgendwann ins Stocken. Vor sechs Jahren entfernte sie sich weitgehend vom Profitennis, studierte und machte den Trainerschein. Nebenher spielte sie noch kleinere Turniere, bis der Spaß irgendwann zurück kam. Jetzt, mit 29 Jahren, erlebt sie den fabelhaften Aufschwung und die beste Phase ihrer Karriere. Der Titel ihrer Bachelor-Arbeit lautete: „Versagen unter Druck“. Siegemund schreibt die Geschichte gerade um: Erfolgreich sein ohne Druck.