Am Puls der Zeit: Walter Ercolino Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Wie soll die Stadt aussehen? Es gibt auch ein Leben jenseits der Oper. Der Popbüro-Chef Walter Ercolino setzt sich dafür ein, dass sich Stuttgart in popkultureller Hinsicht nicht unter Wert verkauft.

Stuttgart - Seit letzten Sommer wird das Popbüro Region Stuttgart von Walter Ercolino geführt. Ihm geht es vor allem darum, Popkultur als das in der Stadt und der Region zu verankern, was sie wirklich ist: Ein Spiegel der Gesellschaft, ein Zusammenspiel aller Medien – und ein gleichwertiger Sparringspartner der sogenannten Hochkultur.

Herr Ercolino, was ist Popkultur?

Man sollte meiner Meinung nach gar nicht trennen zwischen Musik, Film und all den anderen Bereichen der Popkultur. Alles gehört zusammen, alles bedingt sich gegenseitig. Pop ist viel mehr als nur Musik. Pop ist Fashion, Medien, Werbung. Ausschlaggebend ist: Sie findet in Verhandlung mit einer Gesellschaft statt. Pop ist am Puls der Zeit – und das, was in der Gesellschaft stattfindet, spiegelt sich direkt und sofort im Pop wider.

Das macht die Unterscheidung zwischen Popkultur und sogenannter Hochkultur zunehmend schwieriger, oder?

Am liebsten würde ich nur noch von Kultur sprechen und überhaupt nicht mehr zwischen den verschiedenen Sparten unterscheiden. Und das sehen in Stuttgart mehr und mehr Institutionen auch so. In der Staatsgalerie ist das ein Banksy, im Stadtpalais eine Ausstellung über Techno, im Staatstheater eine Peaches, die auf der Bühne steht.

Wie ist es um die Popkultur in Stuttgart bestellt?

Die Stadt verfügt über einen fruchtbaren Humus, aus dem heraus sich sehr viel bildet, doch was die Pflege dieser Kultur angeht, stehen wir noch am Anfang. Das ist aber kein Stuttgarter Problem, sondern ein deutschlandweites. Ich bin sehr viel auf Konferenzen unterwegs und stelle immer wieder fest, dass wir in Stuttgart gut dastehen. Klar, zuerst kommen Berlin und Hamburg, doch danach würde ich bereits Stuttgart einordnen. Unsere Künstlerförderung, unsere Netzwerkveranstaltungen, das Popbüro Region Stuttgart als Institution – all das ist nicht selbstverständlich. Selbst München schaut auf Stuttgart, es wird nur intern nicht überall so wahrgenommen. Wir müssen also aufhören, uns unter Wert zu verkaufen.

Stichwort Künstlerförderung: Wie fördert man richtig?

Förderung ist keine Frage des Budgets, sondern eine Frage des gewünschten Resultats. Ich will Strukturen schaffen, die weitere Popförderungen ermöglichen. Wie kann man Institutionen in Stuttgart von der Wichtigkeit der Popkultur überzeugen? Wie bringt man verschiedene Gruppen und Einrichtungen zusammen? Wie nutzen wir den begrenzten Raum am besten? Wie halten wir die Künstlerinnen und Künstler hier in der Stadt? Denn sicher ist: Wer popkulturelle Infrastruktur etabliert, poliert das Image der Stadt auf. Vom ökonomischen wie auch kulturellen Wert ganz zu schweigen.

Insbesondere die Frage nach dem Raum ist in Stuttgart prekär, weil der Kultur ein Ort nach dem anderen weggenommen wird. Aktuell geht die Ära des Keller Klubs zu Ende, gerade erst mussten Rock-Fans von der Rockfabrik Ludwigsburg Abschied nehmen. Wie kann man gegensteuern?

Wir brauchen ein Gefühl dafür, was erhalten werden muss. Klar müssen sich hier Unternehmen ansiedeln, aber wir müssen eine Balance finden. Niemand von uns will in einer Stadt ohne Clubs oder Spielstätten leben. Deswegen müssen wir überlegen, wie wir den vorhandenen Raum am besten nutzen können – und da wird derzeit noch zu monothematisch gedacht. Es gibt Räume, die werden ab 17 Uhr nicht mehr genutzt, und andere, die erst ab 23 Uhr genutzt werden. Wir müssen deutlich flexibler denken. Das gilt auch für die Entwicklung neuer Quartiere: Wer etwas plant, müsste die Kultur von Anfang an mitberücksichtigen.

Zu den oben angedeuteten Strukturen, die Sie schaffen wollen, gehört auch die bereits bewilligte Veranstalterförderung. Wie sieht die konkret aus?

Wir fördern kleinere Veranstalter gezielt mit einer bestimmten Summe, bemessen an der Zahl der jährlichen Veranstaltungen. Das ist in dieser Art einzigartig in Deutschland und nur ein Anfang. Doch wenn ich so in die Politik schaue, dann entdecke ich viele positive Signale. Man braucht einen langen Atem, aber das Verständnis für Popkultur ist in der Politik angekommen.

Das zeigt sich auch darin, dass Stuttgart zwei Nachtbürgermeister bekommt – einen repräsentativen und einen in der Verwaltung. Klingt nach einer Art Batman für das Nachtleben.

Nachtökonomie wird immer wichtiger. Eine Nachtbürgermeisterin oder ein Nachtbürgermeister sollte ein Vermittler sein zwischen den Clubs und den Anwohnern, sollte nah dran sein an den Clubs und der Stadtentwicklung nach Sonnenuntergang, sollte mit der Politik reden können. Wir müssen das Potenzial der Nacht erkennen und den Bewohnern nahebringen. Nicht, indem wir die Innenstadt zu einem Disneyland ausbauen, aber indem wir alle koexistieren. Dazu gehören Achtsamkeit und Sicherheit in Clubs, aber natürlich auch die Nachhaltigkeit im Nachtleben.

Die Buttersäure-Angriffe auf das Ice Café Adria haben erst vor wenigen Wochen gezeigt, dass es offensichtlich sehr viel Konfliktpotenzial zwischen Anwohnern und Clubs gibt.

Wir alle müssen uns fragen: Wie soll unsere Stadt aussehen? Ich verstehe den Ärger mancher Anwohner teilweise gut. Ich bin mir nur nicht sicher, ob es nicht ein wenig vermessen ist, alle Vorteile eines urbanen Quartiers nutzen zu wollen, aber gleichzeitig eine Idylle wie in der Uckermark zu verlangen. Als Paradebeispiel führe ich da gerne eines aus meinem eigenen Leben an: Ich habe früher in der Alexanderstraße in Stuttgart-Mitte gewohnt. Anfangs waren in dem Haus noch viele ältere Menschen zuhause, doch nach und nach fand eine Umschichtung statt, die viele WGs mit jungen Leuten und der entsprechenden Lautstärke ins Haus brachte. Irgendwann stellte ich fest: In diesem Haus sind gar nicht die anderen das Problem. Sondern ich. Ich passte nicht mehr dazu. Wir alle sollten mal ein wenig reflektieren. Wir sind nun mal eine Großstadt. Und die bringt gewisse Dinge mit sich.

Worauf wollen Sie sich in Zukunft am ehesten konzentrieren?

Die Gleichberechtigung war von Anfang an eine Top-Priorität und wird es auch in Zukunft sein. Mit unserer Netzwerkveranstaltung „Girl Put Your Records On“ haben wir ein erstes Zeichen gesetzt, das mittlerweile angekommen ist und verstanden wurde. Demnächst wollen wir ein Mentorenprogramm aufsetzen, in dem wir erfahrene Frauen aus der Branche mit Newcomerinnen zusammenbringen wollen. Daneben wird uns die Nachhaltigkeit beschäftigen wie natürlich auch der Ausbau der Live-Konzerte. Wir werden mit dem Popbüro Region Stuttgart tolle Locations wie die Grabkapelle oder das Schloss Solitude bespielen. Und zu guter Letzt planen wir eine große Musikkonferenz in Stuttgart.