Polizisten liefern sich einen Kampf mit einem Raucher am Unfallort – ein Fall rechtswidriger Polizeigewalt beschäftigt nun das Amtsgericht. Angeklagt ist ein Beamter, der sich sogar zweifach strafbar verhalten haben soll.
Stuttgart - Zivilrechtlich ist der Fall bereits entschieden. Das Land Baden-Württemberg und das Opfer haben einen Vergleich geschlossen – es gibt 1500 Euro Schmerzensgeld. Doch was hat die brutale Festnahmeszene, bei der Polizisten im Februar 2017 einen Beteiligten eines Verkehrsunfalls mit Schlagstock und Faustschlägen niederringen, für strafrechtliche Folgen? Zwei Jahre nach dem Vorfall muss sich ein 30-jähriger Polizeikommissar seit Dienstag vor dem Amtsgericht wegen gefährlicher Körperverletzung und einer möglichen Vertuschung einer rechtswidrigen Polizeigewalt verantworten.
Dabei spielt ein Video eine zentrale Rolle, das ein Fotograf einer freien Presseagentur von dem Zwischenfall gedreht hat, der sich am 19. Februar 2017 auf der Willy-Brandt-Straße in der Innenstadt abspielte. „Ohne dieses Video hätte mir niemand geglaubt“, sagt das Opfer, ein 37-jähriger Autoservicebesitzer aus Reichenbach an der Fils, ein Muskelmann und in der Jugend erfolgreicher Ringer. Der Film zeigt, wie Polizisten auf ihn eindreschen und er einfach nicht zu Boden gehen will. Der angeklagte Beamte aber sieht das anders: „Das war eine rechtmäßige Diensthandlung“, sagt der 30-jährige Kommissar, „und wenn ich eine Zwangshandlung nur ausschnittweise zeige, kann das ja nur schlimm rüberkommen.“
Alles fängt mit einer Karambolage an
Erst war es nur ein spektakulärer Unfall an jenem Sonntag, 19. Februar 2017. Ein Mini Cooper, offenbar zu schnell, kollidiert vor dem Innenministerium mit einem Opel Corsa, wird ausgehebelt, bleibt auf dem Dach liegen. Fahrer und Beifahrer bleiben unverletzt, Rettungsdienst und Polizei rücken an.
Dann geraten der Beifahrer und der Polizeikommissar aneinander. Weil nicht eindeutig ist, ob der führerscheinlose Mann wirklich nur der Beifahrer war, soll auch er zur Beweissicherung einen Alkomattest machen. „Und deshalb habe ich ihn gebeten, mit dem Rauchen bis nach dem Alkomattest zu warten“, sagt der Polizist vor Gericht. Der andere sieht das nicht ein. Er sei nur Beifahrer, die andere rauchten doch auch, und für eine Blutprobe müsse schon ein gerichtlicher Beschluss her. „Das kam mir ein bisschen lächerlich vor“, sagt der 37-Jährige als Zeuge und Nebenkläger vor Gericht.
Dann eskaliert die Situation
Doch dann muss etwas explodiert sein zwischen Serhat C., dem Polizeikommissar, und Gökhan A., dem Werkstattbesitzer, beides Landsleute. Der Polizist sagt, er habe dem anderen die Zigarette aus der Hand geschlagen, und der Widersacher habe ihm auf Türkisch angedroht: „Du wirst gleich sehen, was ich mache.“ Der Beamte sagt, er habe sich bedroht gefühlt, weil sein Gegenüber „doppelt so breit wie ich“ gewesen sei.
Dann eskaliert die Situation. Der Polizeikommissar geht auf den widerspenstigen Beifahrer zu, versucht ihn von hinten festzuhalten. Der Film zeigt, wie der andere, der erfahrene Ringer, ungläubig lächelt, sich aber nicht in den Griff bekommen lässt. Der Film zeigt nicht, wie die beiden rücklings zu Boden gehen. Angeblich schlug der Beamte dabei mit dem Hinterkopf auf. Die Filmsequenz setzt wieder ein, als vier Beamte versuchen, den widerborstigen Mann mühsam auf den Boden zu ringen. Der Polizeikommissar schlägt mehrfach mit der Faust zu, ein anderer mit einem Schlagstock.
Eine rechtmäßige Diensthandlung? Oder rechtswidrige Polizeigewalt, wie sie laut Universität Bochum bundesweit jährlich 2000-mal stattfindet und nur selten geahndet wird? Laut baden-württembergischem Innenministerium gab es 2017 immerhin 15 Fälle und 114 Disziplinarverfahren.
Das Video wird millionenfach geklickt
Offenbar hat die Polizei schon intern rasch reagieren müssen. Das Opfer prangert noch am selben Tag Polizeigewalt auf seiner Facebook-Seite an. Das Dezernat für Amtsdelikte ermittelt. Drei Tage später, bei der Rückkehr des Polizeikommissars an seine Dienststelle, soll dieser eine Stellungnahme abgeben. Was er schreibt, wird für ihn bald zum Bumerang. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass er den aus dem Ruder gelaufenen Einsatz nachträglich verzerrt hat, um eigenes strafbares Handeln zu vertuschen.
So richtig in Schwung kommt die Sache, als das Opfer das Video im April 2017 auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht. „Es gab 5,5 Millionen Klicks“, sagt es. Die vier Beamten werden zeitweise suspendiert. Nach Monaten dürfen sie wieder arbeiten – zumindest drei sollen in falschem Glauben gehandelt haben. Nur einer bleibt übrig. Die Staatsanwaltschaft erhebt nach 15 Monaten, im Mai 2018, Anklage.
Am Dienstag, nach über zwei Jahren, kommt es aber erst zum Prozess. Erkrankungen der Prozessbeteiligten haben die Termine mehrfach verschoben. Der Polizist ist seit August 2017 krankgeschrieben. Er sagt, er leide unter schweren Depressionen und sei enttäuscht, dass sich der Polizeipräsident zu dem Video vorschnell geäußert habe. Das 37-jährige Opfer sagt, er fühle sich noch heute „verfolgt und stark beobachtet“, wenn er Polizisten in der Nähe sehe. Der Prozess wird fortgesetzt.