Hier geht’s nicht weiter: Passantinnen werden aus der Gefahrenzone gewiesen Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Mit Video-Umfrage - Plötzlich hängt ein Schatten der Anschlägen von Paris über der Innenstadt: Ein möglicherweise bewaffneter Mann löste einen Großeinsatz der Polizei aus. Die Lage am Charlottenplatz ist über Stunden unklar.

Stuttgart - Die Aufregung beginnt um 15.40 Uhr, als sich eine Frau über Notruf im Führungs- und Lagezentrum meldet. In der Nähe des Parkhauses im Bohnenviertel, auf dem Dach eines Hauses an der Ecke Esslinger und Rosenstraße, habe sie einen Verdächtigen gesehen. Martialisch steht er da, mit einem Gewehr im Anschlag. Ein Scherz? Ein Luftgewehr? Eine scharfe Waffe? Die Polizei löst Großalarm aus. Der Charlottenplatz wird abgesperrt. „Eine unklare Bedrohungslage“, nennt das Polizeisprecher Stefan Keilbach. 200 Beamte rücken aus.

16 Uhr. Eine 51-jährige Passantin merkt erst gar nicht, in was sie da hineingeraten ist. Unter dem Charlottenhaus-Hochhaus läuft sie von der Stadtbahn-Haltestelle zur Esslinger Straße – und wird plötzlich von einem blau uniformierten Mann aufgehalten. „Um Himmels willen“, sagt der, „Sie laufen hier mitten in die Schusslinie.“ Der Polizist, Angehöriger der Motorradstaffel, drängt sie in Richtung Unterführung zurück. Danach sitzt ihr der Schreck erst so richtig in den Gliedern. Über dem Charlottenplatz knattert ein Hubschrauber, überall bewaffnete Polizisten, die Straßen am Bohnenviertel sind plötzlich leer. „Da bekommt man Angst um Leib und Leben“, sagt sie.

16.15 Uhr. Die Autofahrer müssen auf der Hauptstätter Straße bleiben, die Ausfahrten in die Altstadt sind gesperrt. Im einsetzenden Berufsverkehr kommt es bald schon zu Staus auf allen Achsen. Das trifft die Busse der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB). Aber auch die Stadtbahnen, deren Schienenweg teils auf den Fahrbahnen verläuft. Der Auflauf bleibt dem Mann auf dem Dach nicht verborgen. Er verschwindet. „Die Person befindet sich nicht mehr auf dem Dach“, sagt Polizeisprecher Stefan Keilbach.

16.30 Uhr. Bewegung, Verfolgung, Festnahme an der Kreuzung im Schatten des Hochhauses. Ein junger Mann mit rotem T-Shirt und Blouson wird von behelmten Polizisten festgenommen. Keine Ahnung, wo der jetzt herkam. Die Beamten legen seine Arme auf den Rücken, dann klicken die metallenen Handschellen. Das Innenfutter der Hosentaschen ist nach der Durchsuchung nach außen gestülpt. Es ist aber der Falsche. Er kommt später wieder auf freien fuß.

16.55 Uhr. Noch immer kreist der Polizeihubschrauber. Das Spezialeinsatzkommando (SEK) aus Göppingen ist auf dem Anmarsch. Es soll das Gebäude im Bereich Esslinger und Rosenstraße durchkämmen. „Die Person wird noch im Gebäude vermutet“, sagt Polizeisprecher Stephan Widmann. Freilich: Niemand weiß wirklich, wo sich der Unbekannte aufhält.

17.15 Uhr. In der SSB-Leitstelle kann man erahnen, was die Fahrgäste gerade denken. Der Stau im Schienennetz reicht bis in den Stuttgarter Osten. „Die Linie U 15 ist stark betroffen“, sagt SSB-Sprecherin Susanne Schupp. Dann haben auch die Linien U 4 und U 9 bis zu 20 Minuten Verspätung. Die Autos versperren den Weg.

17.30 Uhr. Aus dem Gebäude, einem Wohn- und Geschäftshaus an der Esslinger Straße, meldet sich ein 20-Jähriger. Er sei wohl derjenige, der gesucht werde. Er habe mit einem Gewehr auf der Dachterrasse hantiert, gibt er zu.

17.34 Uhr. Die Beamten des SEK arbeiten sich Stockwerk für Stockwerk nach oben. Gerade sind sie auf einem Balkon im vierten Stock. Der 20-Jährige stellt sich.

17.45 Uhr. Christos Tridantasilidis steht in seinem griechischen Restaurant an der Rosenstraße und seufzt: „Alles war hier gesperrt“, sagt er, „hoffentlich kommen heute Abend die Gäste, die ersten haben für halb sieben reserviert.“

18.14 Uhr. Das war’s. „Die akute Bedrohungslage ist beendet“, sagt Polizeisprecher Stefan Keilbach, „die Absperrungen werden aufgehoben.“ Die Arbeit ist damit nicht beendet. Das Haus muss gründlich durchsucht werden, um jegliche Gefahr noch auszuschließen. Die Einsatzkräfte finden in dem Gebäude das mutmaßliche Gewehr und weitere Gegenstände, die sichergestellt werden. Bei der Waffe handelt es sich lediglich um ein Druckluftgewehr. Zeitgleich sitzt der Festgenommene im Polizeirevier und wird verhört. Er habe nicht vorgehabt zu schießen, sagt er. Der 20-Jährige wohnt nicht im Gebäude, er war dort zu Besuch.

19 Uhr. Ob harmlos oder nicht – auf den 20-Jährigen kommt massiver Ärger zu. 200 Beamte fast drei Stunden im Einsatz – da kommt neben der Strafanzeige wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz noch eine saftige Rechnung zusammen.