Für den Parteienforscher Eckhard Jesse ist die öffentliche Aufregung um die Kunstfigur Horst Schlämmer Ausdruck der Politikverdrossenheit vieler Bürger. Wir sprachen mit ihm.

Für den Chemnitzer Parteienforscher Eckhard Jesse ist die öffentliche Aufregung um die Kunstfigur Horst Schlämmer Ausdruck der Politikverdrossenheit vieler Bürger. Die realen Parteien würden immer unglaubwürdiger und unehrlicher.

Herr Jesse, würden Sie am 27. September auch Horst Schlämmer wählen, wenn er als Kanzlerkandidat antreten würde?

Ich wählte nicht Horst Schlämmer, weil ich so einer Partei nützen würde, die ich nicht mag. Ich wähle die Partei, die für mich das kleinere Übel ist. Die Leute sagen zwar, sie wollten die Schlämmer-Partei wählen oder die Mauer wiederhaben. Doch es wäre verkehrt, dies für bare Münze zu nehmen.

Wie erklären Sie sich die Aufregung um Hape Kerkeling alias Horst Schlämmer? Vergeht einem bei 1,9 Billionen Euro Staatsschulden nicht der Spaß? Oder ist es Galgenhumor?

Wenn Schlämmer alias Kerkeling real anträte, würde er die Fünf-Prozent-Hürde nicht überwinden. Die Leute reagieren so aus Frust - etwa über die Politik der Großen Koalition. Die Parteiverdrossenheit war bei weitem noch nie so groß wie heute, wie die Affäre um Ministerin Ulla Schmidt zeigt. Dass Steinmeier nicht klar sagt, ich distanziere mich von ihr, kostet ihn viele Stimmen. So etwas verbittert die Bürger, die den Gürtel enger schnallen müssen.

Diese Verdrossenheit liegt doch auch an den Kandidaten, die einen Wahlkampf führen, als wären sie Buchhalter. Woran liegt das?

Angela Merkel hat 2005 einen offenen, ehrlichen und harten Wahlkampf geführt. Sie hat gesagt, was sie vorhat. Diesmal ist es gerade umgekehrt. Diesmal ist sie die Kanzlerin und lässt den Gegner kommen.

Und was ist mit ihrem Gegner - mit Steinmeier und der SPD?

Die sind in einer ganz schwierigen Situation. Steinmeier ist ein guter Bürokrat und Außenminister, aber ein schlechter Wahlkämpfer - ohne jedes Charisma. Er hat nicht die richtigen Themen. Die SPD hätte wohl besser auf einen kantigen Mann wie Steinbrück gesetzt, der glaubwürdig ist und auch mal was gegen die eigene Partei sagt und für etwas steht. Die SPD verliert Stimmen nach links und rechts. Es herrscht viel Hilflosigkeit, und dennoch ist die SPD aggressiv wie jetzt Müntefering, der den Gegner provozieren will. Aber es ist eine Polarisierung ohne jede Substanz.

Steinmeier will Kanzler werden - bei Umfragewertenvon 22, 23 Prozent. Verkommt Politik da nicht zur Realsatire?

Soll Steinmeier denn sagen, er will nicht an die Macht? Natürlich ist es unehrlich, wenn die SPD die FDP bekämpft und nach der Wahl eine Koalition mit ihr und den Grünen anstrebt. Das schadet dem Bild der SPD in der Bevölkerung. Sie wird unglaubwürdig. Die SPD hat mehr Gemeinsamkeiten mit der Linken, mit der sie nicht koalieren will, als mit der FDP, mit der sie regieren will.

Hat die SPD mit Steinmeier auf den falschen Spitzenmann gesetzt?

Auch ich hatte gedacht, dass es Kurt Beck nicht kann, dass er wegmuss. Das hat die SPD gemacht, und jetzt zeigt sich, sie kommt trotzdem nicht aus ihrem 22-bis-25-Prozent-Loch raus. Aber das kann auch die Union nicht froh machen. Die CDU muss als große Volkspartei ein Interesse daran haben, dass die andere große Volkspartei stabil bleibt. Das Beste wäre, die SPD würde in die Opposition gehen und dort einen anderen Kurs fahren.

Was raten Sie den Parteien?

Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Geradlinigkeit. Wer jetzt sagt, es gibt Steuererleichterungen, ist einfach unehrlich. Die Parteien schaden sich mit solchen Versprechungen.

Steinmeier entlarvt solche Versprechungen als Augenpulver. Dennoch ist er erfolglos.

Dafür hat er gesagt, dass er bis 2020 vier Millionen Jobs schaffen will. Steinmeier weiß, dass dies nicht machbar ist. Die Parteien müssten realistischer die Lage schildern und nicht allen alles versprechen.

Wie kann denn in der derzeitigen Krise überhaupt regiert werden?

Es muss wieder so sein, dass eine große Partei mit einer kleinen Partei regiert. Es ist ein Drama, wenn die großen Parteien immer weniger Stimmen bekommen. Dann ist eine Große Koalition nahezu zwangsläufig, weil eine große Partei nicht mehr allein mit einer kleinen Partei regieren kann. Das schlimmste Wahlergebnis für die Demokratie wäre eine erneute Große Koalition.

Wer wird am 27. September gewinnen?

Ich glaube nicht, dass die SPD Schwarz-Gelb verhindern kann. Angela Merkel lässt sich nicht provozieren. Sie hält sich zurück, weicht allem aus, sitzt alles aus. Sie ist im Grunde ein kleiner Helmut Kohl geworden.