Betriebsblind wie immer – und nur Annalena Baerbock (Mitte) spricht Klartext bei Anne Wills Talkshow zur Europawahl am Sonntagabend. Foto: NDR

Das Debakel der Volksparteien bei der Europawahl ist auch die Quittung für eine Sprache, die verschleiert statt aufklärt, kommentiert Roland Müller.

Stuttgart - An Wahlsonntagen steht nach dem „Tatort“ das Programm bei Anne Will fest: Ergebnisse begutachten, Triumphe feiern, Wunden lecken, Fehler eingestehen, Vorwürfe machen. So will es das Ritual, das sich auch durch historische Debakel der alten Volksparteien offensichtlich nicht erschüttern lässt. Ihre Vertreter nehmen die Niederlage zur Kenntnis, lernen aber nichts dazu. Rhetorisch nicht, argumentativ nicht, habituell nicht. Sie starren weiter auf den Berliner Politikbetrieb und führen genau das auf, was an diesem Wahlabend eben auch abgestraft wurde: das inzestuöse Dauergespräch aus Machtstrategien, Personalien und Posten. Immerhin einem Gast der Talkrunde fällt das auf: „Die jungen Menschen wissen im Zweifel gar nicht, wer Andrea Nahles ist“, sagt Annalena Baerbock, „sie wissen auch nicht, wer Annalena Baerbock ist. Aber sie wissen, dass was getan werden muss.“

Mit Plastiksprache gegen Rapper?

Recht hat sie, die Grünen-Vorsitzende. Die Bürger wissen, dass beim Klima und beim Wohnen etwas getan werden muss, bei sozialer Gerechtigkeit und Flüchtlingskrise, Waffenexporten, Aufrüstung, Kriegsgefahr, Globalisierung. Nicht über Parteiapparate, über Themen wollen sie sprechen – und das nicht ausweichend, vernebelnd, verschleiernd wie in Talkshows und Parlamenten, sondern so, wie es seit Monaten die jungen Menschen vormachen, die Freitag für Freitag für den Klimaschutz auf die Straße gehen. Ihre Fridays-for-Future-Sprache ist erfrischend anders: klar, unverblümt, direkt und auf ein Ziel orientiert – und dieses Ziel, der Schutz der Schöpfung, gewinnt eben an Dringlichkeit, weil es die Schüler und Schülerinnen geradeaus ohne taktische Rücksichten formulieren. Das kann man auch dem Youtuber Rezo nicht vorwerfen, der in seinem Video die „Zerstörung der CDU“ fordert. Vielleicht konnten die Christdemokraten die Attacke deshalb nicht parieren, weil ihnen schlicht die Worte dazu fehlten: Mit rundgeschliffener Plastiksprache – etwas anderes scheinen sie nicht zu haben – richtet man gegen einen Rapper nichts aus.

Das Einschläfern der Wähler klappt nicht mehr

Ob sich am Plastik der Machtprofis je etwas ändert? Jüngst wurde Annegret Kramp-Karrenbauer gefragt, ob sie Anspruch aufs Kanzleramt habe – und statt „Ja“, „Nein“ oder „Weiß noch nicht“ zu sagen, schwurbelte sie sich über Ewigkeiten hinweg eine Antwort zusammen, die keine war. Im Vermeiden von Klartext toppt sie schon jetzt die Frau, die sie beerben will, dabei hatte Merkel die rhetorische Technik der Null-Botschaft bereits auf ungeahnte Höhen geschraubt. Wahlkämpfe hat sie auch deshalb gewonnen, weil sie zu kontroversen Themen einfach nichts sagte, eine Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“, die darauf abzielte, Wähler konkurrierender Parteien so einzuschläfern, dass sie das Wählen vergaßen.

Hat lange geklappt, klappt aber künftig vielleicht nicht mehr ganz so reibungslos: Die Fridays for Future sind auch Frei- und Feiertage für einen anderen Politikstil.