Fast-Food-Verbot für Kinder oder Wie Politiker sich Aufmerksamkeit verschaffen.

Berlin - Es ist Sommer, und dies ist die fünfte Berliner Jahreszeit. Skurrile politische Vorstöße machen die Runde. Doch diejenigen, die wirklich etwas zu sagen haben, sind weg.

Auf dem Flughafen Tempelhof starten wieder Flugzeuge. Seit der Schließung des legendären Flugfeldes im Oktober 2008 lassen Anwohner, die das riesige Areal Schritt für Schritt zurückerobern, Drachen, Leichtbauflugzeuge und Paragleiter starten. Ein Stück Neue Berliner Freiheit. Versuchsballone heben hier auch ab: zu spannend ist es mitanzusehen, auf welche Ideen Kinder kommen, selbst fabrizierte Leichtbauinstrumente in den Himmel zu schicken.

Sommerloch 2010: Dicke und Fast-Food

Politiker lassen sich hier nicht blicken; sie agieren im eigenen Luftraum, um jetzt, hier und heute in diesen warmen Sommertagen, ihre eigenen sehr speziellen Versuchsballone zu starten. Ballone, die sie in ungeahnte Höhen der Aufmerksamkeitsskala katapultieren sollen - mit dieser einen Idee, diesem einen Vorschlag, der füllt, was im politischen Berlin das Sommerloch genannt wird. Ihr Sommerangebot 2010 steht: Dicke sollen höhere Krankenkassenbeiträge zahlen, und Kinder unter 16 Jahren kein Fast Food mehr essen.

Ersteres fordert der sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz: "Sollen die immensen Kosten, die zum Beispiel durch übermäßigen Esskonsum entstehen, dauerhaft aus dem solidarischen System beglichen werden?"

Den Kindern nicht die Butter vom Brot, aber den Burger aus der Hand stehlen will der FDP-Parlamentarier Erwin Lotter: "Eltern werden ihrer Verantwortung nicht gerecht, wenn sie Kinder mit Fast Food vollstopfen oder Mikrowellenterror ausüben." Zuvor war es an dem CDU-Politiker Gerald Weiß, einen Strafenkatalog für Beleidigungen innerhalb der zerstrittenen schwarz-gelben Regierungskoalition ins Spiel zu bringen. Doch das Rabaukentum bleibt ebenso straffrei wie der Vorschlag des Berliner CDU-Innenpolitikers Peter Trapp an der Seite des CSU-Europaabgeordneten Markus Ferber, Zuwanderer einem Intelligenztest zu unterziehen. Niemand sonst im parlamentarischen Kollegenkreis nahm sich dieser Diskussionsbeiträge an - sie versanken in der Tiefe des Sommerlochs.

Sommerloch ist ein deutsches Spezifikum

Denn die, die wirklich etwas zu sagen haben, sind in der Sommerfrische. Wer wichtig ist, hält sich jetzt zurück. Die Bundeshauptstadt wirkt wie leer gefegt ohne die 622 Bundestagsabgeordneten und ihre Mitarbeiter. Allein jene, die Stallwache schieben, also im Informationsnotfall erreichbar sein müssen, arbeiten sich durch Aktenberge, die der Parlamentsbetrieb zuletzt produziert hat.

Der Medien- und Kommunikationsforscher Norbert Bolz macht sich sein eigenes Bild vom Sommerloch, das er für ein deutsches Spezifikum hält. In dieser fünften Berliner Jahreszeit verlören sich die ansonsten üblichen Kriterien - allen voran die Frage nach dem Neuigkeitswert einer Nachricht. Ein Sommerlochthema muss nicht zwingend neu sein, auch olle Kamellen schaffen es, erwähnt, kommentiert und/oder belächelt zu werden. Das Bolz'sche Gesetz für ein erfolgreiches Sommerlochthema folgt einer schlichten Bedingung: Das Thema muss die Menschen direkt angehen, ihre Neugierde wecken.

Mit Sommerlochthemen profiliert man sich nicht

Nun schlägt die Stunde jener, denen im parlamentarischen Alltag der Sprung in die Öffentlichkeit nicht ohne weiteres gelingt. Sie nutzen das politische Vakuum in der Arena, die ihnen die Profis vorübergehend überlassen. Der Stuttgarter Politikwissenschaftler Oscar W. Gabriel weiß: "Es wird keinem Hinterbänkler gelingen, sich mit einem Sommerlochthema zu profilieren. Damit kann nur auffallen, wer nach kurzfristiger Aufmerksamkeit giert, weil er sonst in der Öffentlichkeit nicht zum Zuge kommt."

Als Erfinder der politischen Sommerloch-Aufregung gilt der CSU-Politiker Dionys Jobst, der im Jahr 1983 während eines Schabernacks mit einem Journalisten forderte, die bei deutschen Touristen so beliebte spanische Ferieninsel Mallorca für 50 Milliarden Mark zu kaufen und als 17. deutsches Bundesland einzugemeinden. Jobst verbrachte acht Legislaturperioden im Bundestag und beantragte 1978 in ebenjenem Hohen Haus, die Bundesregierung möge mit dem Fußballclub Cosmos New York verhandeln, um den dort stürmenden Franz Beckenbauer für die Fußball-WM nominieren zu können. Für den Medienwissenschaftler Bolz steht fest: "Die Karriere ist noch nicht beendet, wenn der Ruf ruiniert ist. Was für B-Promis gilt, gilt für Politiker schon lange." Politiker seien nur nicht so unverfroren wie manch ein Prominenter.

Sommerlochende Politiker ernten meist Kopfschütteln

Nicht jedes Thema, das ein sommerlochender Politiker in die Schlagzeilen spielen will, ist strukturell falsch, albern oder effektheischend. Der Reflex jedoch funktioniert: Kopfschütteln. Als Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) nun die Schutzklausel vor Rentenkürzungen bei sinkenden Löhnen infrage stellte, fielen die Reaktion allerdings sachlicher aus: Das Thema ist derart heikel und erhitzt die Gemüter der größten Wählergruppe - der Senioren -, dass sich die Bundesregierung prompt vom Vorstoß ihres Kabinettsmitglieds distanzierte. Parteienforscher Gabriel: "Das war kein Sommerlochthema. Dieser Streit war nur ein weiteres Indiz für die Zerstrittenheit der Koalition."

Anders das Nein zum Fast Food für Kinder und Jugendliche: Der Augsburger FDP-Abgeordnete Erwin Lotter ist zugleich Allgemeinmediziner und Psychotherapeut. Er macht sich stark gegen den Mikrowellenterror, den er in vielen kinderreichen Familienhaushalten zur Kenntnis nimmt. Lotter sieht in dem Thema Übergewicht eine tickende Zeitbombe. Eltern jener Opfer sollten verpflichtet werden, Ernährungskurse zu belegen und das richtige Maß an Bewegung zu lernen. Dass er ein Fast-Food-Verbot verlangt, dementiert Lotter mit aller Deutlichkeit. Das habe eine Boulevardzeitung wahrheitswidrig daraus abgeleitet.

Voraussetzung für ein Sommerlochthema: Möglichst skurril

Der sozialdemokratische Gesundheitsexperte Karl Lauterbach attestiert dem FDP-Kollegen dagegen Scheinheiligkeit. Lange war eine Ampelkennzeichnung für Dickmacher im Gespräch: "Alle Initiativen für eine Ampelkennzeichnung hat die FDP abgelehnt."

In den letzten Jahren konkurrierten die skurrilsten Sommerlochthemen miteinander: Wehrpflicht per Losentscheid, Ausgehverbot für Kinder nach 21 Uhr, Halbierung der Fernsehgebühren im Sommer, weniger Kindergeld für schlechte Eltern, Bußgeld für lautstarke Autoradios, Fußfesseln für Schulschwänzer, Gratis-Handys für Obdachlose, Pizzasteuer, Abwaschhilfspflicht für Ehemänner, Fahrradführerschein, Kontingentierung von Langstreckenflügen, Autobahn-Maut für Pkw, die Direktwahl des Bundespräsidenten - oder, auch sehr schön: 50 Euro Bußgeld für Nichtwähler.

Alles halb so schlimm? Das Spiel scheint durchschaut, die Aufregung verebbt binnen Stunden. Die Wähler, und streunen sie noch so ermattet durch die Hitze, ahnen: Wenn ein Politiker es ernst meint, wird er sie zu Beginn der Parlamentsferien in Ruhe lassen - und sich allenfalls an den Versuchsballonen auf dem Flugfeld Tempelhof erfreuen.