Irgendjemand hat im Stuttgarter Schlossgarten Lockmodule gelegt. Hier treffen sich nun duzende junge Leute auf der Jagd nach virtuellen Pokémon. Foto: Spanhel

Das neue Smartphone-Spiel „Pokémon Go“ verlegt die Jagd nach virtuellen Monstern in die reale Welt. Der Hype hat längst auch Stuttgart erreicht. Eine Suche nach Taubsi und Co.

Stuttgart - Das erste Monster taucht direkt neben dem Kunstgebäude am Stuttgarter Schlossplatz auf. Ein kleines, gelbes Etwas mit einer Art Rüssel, das in der Nähe der hohen Säulen auf und ab hüpft. Tina hält ihr Smartphone etwas höher, dreht sich ein wenig nach links, dann nach rechts. „Das Traumato ist weggehuscht“, sagt die 28-jährige Produktmanagerin aus Stuttgart. Sie geht ein paar Schritte weiter in Richtung Schloss, den Blick auf das Handy gerichtet. Dort war das seltsame Wesen eben noch zu sehen, doch ein Blick vom Display weg in die Realität zeigt: Da ist nichts, kein Rüsselmonster neben einer Säule. Kein Wunder, das Traumato ist virtuell, projiziert in die reale Welt, sichtbar nur für die Spielerin.

„Ich bin ein Pokémon-Fan, von klein auf“, sagt Tina, „damit ist meine Generation aufgewachsen.“ Mit diesen kleinen Monstern, die Pikachu heißen, Taubsi oder eben Traumato. Mit Pokémon-Videospielen, Fernsehserien und den bunten Sammelkarten, die damals in den 90ern und Anfang der Nuller-Jahre im Trend lagen. Tina spricht von Nostalgie, von Erinnerungen an die Kindheit und davon, dass man ja auch gerne auf 90er-Parties gehe, um die eigene Jugend aufleben zu lassen.

Auf einmal sind sie also wieder da – die bunten Taschenmonster. Der Spielekonsole-Hersteller Nintendo hat Pokémon auf die Smartphones gebracht, und mehr als das: in die reale Welt. Denn „Pokémon Go“ bezieht die tatsächliche Umgebung in die Spielwelt mit ein, macht sich das technische Prinzip der so genannten „augmented reality“ zunutze, der erweiterten Realität. Um die kleinen, virtuellen Monster zu fangen, die an verschiedenen Orten lauern, muss ein Spieler sich in der echten Welt bewegen. Das Smartphone nutzt dazu die GPS-Standort-Erkennung: Ähnlich wie bei Google Maps bewegt sich die Spielfigur über Straßen und Plätze, wenn der Spieler sich in Stuttgart befindet werden die Pokémon-Figuren neben dem Landtag oder der Stuttgarter Oper gezeigt. Und mehr noch: schaltet der Spieler seine Handykamera ein, werden die Monster auf dem Telefon-Display in die reale Umgebung versetzt.

Hunderte Monster gilt es zu sammeln, um sich von Level zu Level zu spielen

Die Spielfigur auf Tinas Bildschirm ist ein Mädchen mit wippendem Pferdeschwanz, Rucksack und Schildmütze – sie irrt ein wenig umher. Plötzlich taucht das gelbe Wesen wieder auf dem Display auf – es sitzt nun vor der Außenwand des neuen Schlosses. Tina visiert das virtuelle Monster mit ihrem Handy an und wischt mit dem Finger über den Bildschirm, um einen sogenannten Pokéball zu schleudern und das Monster damit zu treffen. Es geht bei dem Spiel, das wird hier deutlich, um Jagen und Sammeln. Hunderte verschiedene Monster gilt es zu fassen, um Erfahrungspunkte zu sammeln und sich von Level zu Level zu spielen. Fast wie damals, in der Jugend, als die seltsamen Wesen auf papiernen Karten gedruckt waren und es darum ging, möglichst viele Monsterkarten zu ertauschen. „Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, Pokémon auch in der Realität jagen zu können“, erzählt Tina und lächelt.

Die Fantasiewelt mit der Wirklichkeit zu verbinden – das macht wohl die Faszination dieses Spiels aus. Innerhalb nur weniger Tage hat es weltweit einen Hype ausgelöst, nicht nur bei Computerfreaks. Erst vor einer Woche, am 6. Juli, ging es in den USA an den Start, seitdem verbreitet sich „Pokémon Go“ explosionsartig, auch in Ländern, in denen die Versionen zunächst gar nicht offiziell verfügbar war. Das Programm führt die weltweiten Appstore-Charts an, der Nintendo-Börsenwert stieg um 10 Milliarden Euro an. Seit Mittwoch gibt es das Spiel auch in Deutschland.

Tinas Smartphone vibriert auf einmal wie wild. Ein Zeichen, dass ein Monster in der Nähe ist, sagt Tina und eilt in Richtung Schlossgarten. Die App zeigt ihr als Anhaltspunkt das Bild der weißen Venusstatue. Offensichtlich hat nicht nur sie dieses Zeichen erhalten: an dem kleinen Brunnen nebenan stehen inzwischen fast zwei Dutzend junge Menschen, starren auf ihre Smartphone-Displays, drehen sich um sich selbst. Irgendjemand habe wohl ein Lockmodul ausgelegt, sagt Tina, deutet auf rosafarbene Wolken auf ihrem Bildschirm, erzählt von angelockten Pokémons und davon, dass sich an solchen Punkten besonders viele Trainer treffen, also Spieler.

Überall in Stuttgart gibt es sogenannte Pokéstops, an denen die zur Jagd wichtigen Pokébälle gesammelt werden

Der Hype um die Pokémon-Jagd hat auch Stuttgart längst erreicht. Überall in der Stadt gibt es so genannte Pokéstops – Punkte, an denen man die zur Jagd so wichtigen Pokébälle einsammeln kann, wenn man sie nicht kaufen will. So ein Stop sind zum Beispiel die Venus-Statue nahe der Oper oder das Denkmal von Christoph von Württemberg auf dem Schlossplatz. Der Daimler-Standort in Möhringen, der Königsbau oder die Uni Hohenheim haben sich mittlerweile in Pokémon-Arenen verwandelt, in denen kleine, virtuelle Monster mit Feuer, Blitz und Wasser gegen die Tiere anderer Teams kämpfen. Inzwischen gibt es eine Facebook-Gruppe, der erste Termin zum gemeinsamen Jagen wurde angesetzt.

Was macht das Phänomen aus, was treibt die jungen Leute überall auf die Straßen? Ist es nur die in die Realität verlegte Jagd nach den virtuellen Monstern? Es ist wohl auch der Name – jene Reminiszenz an die eigene Kindheit. Denn fragt man all die Leute, die im Schlosspark bunte Monster jagen, was den Reiz des Spiels ausmache, sagen fast alle: „Pokémon eben“. Schon der Begriff löse einen Hype aus, man sei schließlich damit aufgewachsen, sagt auch der 20-jährige Alperen, Schüler auf einem Stuttgarter Wirtschaftsgymnasium. Und, ja, vielleicht sei es auch der Ehrgeiz, den das Spiel wecke. „Man will besser werden als die Freunde“, sagt Alperen, deutet auf die zwei Jungs neben ihm. Von der anderen Seite schaltet sich ein junger Mann in Karohemd und Hipster-Brille ins Gespräch. Es habe noch kein Spiel gegeben, das so viele Menschen verbinde, sagt er. Wendet sich dann wieder ab, um einer etwas älteren Frau Tipps für die Jagd nach Pokémons zu geben, die in der Nähe lauern.

Um den Brunnen am Eckensee stehen inzwischen wohl um die 40 junge Menschen, die Köpfe gebeugt, Handys in der Hand – trotz des beginnenden Nieselregens. Über ihre Daten, die durch das Spiel und das Anmelden auf einem Google-Nutzerkonto eingesammelt werden, oder auch über die Gefahren, die durch das bildschirmgelenkte Umherirren entstehen, machen sich nur die wenigsten Spieler Gedanken. „Google hat meine Daten ja sowieso“, sagt Tina. Der Hype werde auch wieder vorbeigehen, sagt Alperen. Vielleicht gibt „Pokémon Go“ aber auch nur eine leise Vorahnung dessen, was die Zukunft digitaler Spiele bringen wird.

Android-Nutzer können die App ab sofort im Google Play Store herunterladen, Besitzer von iPhones finden sie in Apples App Store.

Der Hype um „Pokémon Go“

Hintergrund

App „Pokémon Go“ verbreitet sich seit dem Start am 6. Juli weltweit explosionsartig. Das von Nintendo entwickelte Spiel verbindet niedliche Monster, Smartphones, GPS und Karten für eine virtuelle Monsterjagd. Seit Mittwoch ist die App auch in Deutschland erhältlich. Bis zum Abend hatte sie knapp 700 000 iPhone- und über 15 000 Android-Downloads.

Geschäftsmodell
Das Herunterladen der App ist gratis, das Geschäftsmodell basiert auf Zukäufen. Der Name „Pokémon“ ist die Kurzform von „Pocket Monster“ (Taschenmonster). Für das japanische Unternehmen Nintendo erweist sich die App als Glücksfall: Der Börsenwert des Konzerns stieg um 10 Milliarden Euro. Schon in den 90er Jahren gab es eine vergleichbare Hysterie um Pokémon. Damals erschien das Spiel für Nintendos Gamboy. Insgesamt verkauften sich Titel der Reihe 260 Millionen Mal.

Verhalten Das Spiel sorgt teilweise auch für Ärger. Das Washingtoner Holocaustmuseum mahnte eine Pokémon-Auszeit in der Ausstellung an. In Sydney machten Hunderte spielverrückter Australier mitten in der Nacht auf der Suche nach virtuellen Pokémon-Figuren so viel Krach, dass die Polizei kommen musste.