Am Jahrestag der Pogromnacht wird an brennende Synagogen und an das Schweigen der Nachbarn bei Misshandlungen jüdischer Mitbürger erinnert. Doch reicht das angesichts gegenwärtiger Herausforderungen aus?
Frankfurt/Main - Kerzen auf Stolpersteinen und vor ehemaligen Synagogen, Gespräche von Zeitzeugen und Reden, die zum Erinnern aufrufen: Das ist mittlerweile Routine an Tagen wie dem 9. November, dem Jahrestag der Pogromnacht von 1938, oder am 27. Januar dem Internationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Alles gut gemeint, findet Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, aber: „Gedenken allein reicht nicht.“
Die Deutschen sehen sich zwar einerseits als „Erinnerungsweltmeister“, sagt der gebürtige Israeli. Doch die ritualisierte Gedenkkultur sei an ihre Grenzen gekommen. „Eine aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust ist heute in Deutschland dringend gefordert“, fordert Mendel.
Antisemitische Angriff sind alltäglich
Es sind nicht nur die Forderungen nach einem Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus von AfD-Politikern, die Mendel und seinen Mitarbeitern Sorge bereiten. Auch im Alltag erleben sie Angriffe über soziale Medien oder anonyme Mails, teils mit deutlich antisemitischen Tönen. Eva Berendsen, die Sprecherin der Bildungsstätte, berichtet, auf der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Monat habe es „gezielte Provokationen und Einschüchterungsversuche durch Vertreter der Neuen Rechten“ gegeben.
Eine Zunahme von Antisemitismus sieht auch der Frankfurter Rabbiner Avichai Apel. Die meisten seiner Gemeindemitglieder verzichteten darauf, sich etwa durch das Tragen einer Kippa äußerlich als Juden zu erkennen zu geben. Laut einer Studie der Universität Bielefeld unter mehr als 550 jüdischen Befragten nahmen drei Viertel der Umfrageteilnehmer Antisemitismus als ein großes Problem in Deutschland wahr. Nur ein Drittel von ihnen hatte selbst keine versteckt antisemitischen Andeutungen oder offenen Beleidigungen erlebt.
Im Umgang mit der in Frankfurt geborenen Anne Frank sieht Mendel ebenfalls Anzeichen für fehlende Sensibilität. Nur wenige Wochen, nachdem in Rom italienische Ultra-Fans mit dem Konterfei des im Konzentrationslager Bergen-Belsen an den Folgen von Hunger und Krankheit gestorbenen jüdischen Mädchens die gegnerische Mannschaft verhöhnt hatten, postete ein Mann aus dem hessischen Wetzlar auf der Facebookseite einer rechtsnationalen Gruppe die Fotomontage eines Pizzakartons mit dem Bild Anne Franks. Der Karton trug die Aufschrift „Die Ofenfrische“. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Bahn will ICE nach Anne Frank bennenen – Sie wurde mit Zügen ins KZ deportiert
Selbst die eigentlich gut gemeinte Idee der Deutschen Bahn, einen ihrer neuen ICE-Züge nach Anne Frank zu benennen, macht für Mendel eine fehlende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit deutlich: „Anne Frank wurde schließlich in Zügen der Reichsbahn nach Auschwitz und nach Bergen-Belsen deportiert.“
„Ich finde es geschmacklos, einen deutschen Zug nach Anne Frank zu benennen“, sagt auch Manfred Levy von der Pädagogischen Abteilung des Fritz Bauer Instituts an der Frankfurter Goethe-Universität. Der Pädagoge teilt die Skepsis gegenüber dem „alljährlichen Gedenkmarathon“ am 9. November. „Es werden sicher interessante, bewegende und aufrüttelnde Reden gehalten“, sagt er.
Doch werde es in der Frankfurter Paulskirche wohl wieder ähnlich sein wie in den Vorjahren: „Kaum Jugendliche, und die Mehrheit der älteren Gäste aus der jüdischen Gemeinde“ - also diejenigen, die bereits bestens wissen, was am 9. November 1938 geschah. „Ich habe den Eindruck, dass diese Feiern inhaltlich so zum Ritual erstarrt sind, dass sie keine Verbindung zur Gegenwart zulassen und somit nur noch wenige erreichen.“
„Jugendliche statt Politiker sollten Gedenkrede halten“
Ein anderes Alarmzeichen sei es, wenn wie zu Jahresbeginn Stolpersteine in Dresden mit den Namen von Deutschen überklebt worden seien, die bei den Luftangriffen der Alliierten ums Leben kamen. Alarmierend sei auch, dass nach einer im September veröffentlichten Umfrage der Körber-Stiftung nur 59 Prozent der Schüler ab 14 Jahren wussten, dass Auschwitz ein Konzentrations- und Vernichtungslager war.
Levy hätte deshalb einen ganz konkreten Vorschlag zur Verbesserung der Erinnerungskultur nicht nur am 9. November: „Wenn jedes Jahr eine andere Schule die Patenschaft für die Feier übernimmt und Jugendliche statt Politikern die Gedenkrede halten.“