Die vier „Mängeleksemplare“: Nikita Gorbunov, Marius Loy, Lena Hofhansl und Nik Salsflausen (v. li.) Foto: Lena Hitzenberger

In Esslingen hat sich ein literarisches Quartett von Poetry Slammern formiert, das menschlichen Fehlbarkeiten ein Podium verschafft: „Mängeleksemplare“ nennen sich Lena Hofhansl, Marius Loy, Nik Salsflausen und Nikita Gorbunov.

Esslingen - Makel, Unvermögen, Fehler, Defekt, Macke, Unterfunktion, Haken, Negativum, Schwachpunkt, Schwachstelle, Unvollkommenheit, Manko, Nachteil, Defizit, Gebrechen, Insuffizienz. Wörter, um Unzulänglichkeiten zu beschreiben, gibt es genug.

Thematisiert werden sie indes selten: Bei der Soiree quasseln die Gäste vom Können, von Bewerkstelligungen und Errungenschaften. Im Bewerbungsgespräch nach Schwächen gefragt, führen Amateure verkappte Stärken an, schwafeln Blödsinn à la: „Ich bin vermutlich zu ehrgeizig, hehe!“, während der Profi freilich mit „schöne Frauen und gutes Essen“ antwortet. Und im Sport bezeichnet man das eigene Versagen oft als „Schiedsrichter“.

Die ganze Welt ist von Perfektionisten besetzt. Die ganze Welt? Nein! Das von unbeugsamen Poeten bevölkerte Esslingen hört nicht auf, den vermeintlichen Alleskönnern Widerstand zu leisten. Formiert hat sich dort ein literarisches Quartett, das menschlichen Fehlbarkeiten ein Podium verschafft: Lena Hofhansl, Marius Loy, Nik Salsflausen und Nikita Gorbunov nennen sich „Mängeleksemplare“ und lesen monatlich in der Alten Spinnerei. Um dabei auch wirklich zu scheitern, gibt es zwischen den Textvorträgen publikumsbestimmte Aufgaben, intime Fragerunden oder Rap-Battle. Zu jeder Show wird zudem ein Gast geladen, der gegebenenfalls auch ein wenig Musik beisteuert.

Widerstand gegen die vermeintlichen Alleskönner

Die Ursuppe, aus der diese Lesebühne der Scheiterfreudigkeit erschaffen wurde, ist mal wieder der Poetry-Slam. Über diesen haben die vier zueinandergefunden. Nikita Gorbunov, Stuttgarts Slam-Gesicht, organisiert im Jugendhaus Mitte den „Slam auf der Couch“, veranstaltet mit Harry Kienzler die Show „Gorbunov & Kienzler“ im Zwölfzehn und brachte die deutschsprachigen Meisterschaften des Poetry-Slams im vergangenen Jahr nach Stuttgart. Auch in der Alten Spinnerei in Esslingen hat er bereits etliche Slams moderiert: „Die beste Location der Region“, sagt Gorbunov über die kleine Holzhütte, in der man sich den Kopf früher oder später an einem Querbalken stößt.

Bei Gorbunovs Couch-Slam hatte Lena Hofhansl, mit 24 Jahren das Küken der Truppe, einen ihrer ersten Auftritte: „Danach kamen die drei anderen auf mich zu und fragten, ob ich Bock auf eine Lesebühne hätte.“ Die Punk- und Romanautorin sagte direkt zu, generell scheut sie wohl vor wenig zurück: Bei den „Mängeleksemplaren“ eröffnete sie ihren Redeteil mit dem Zitat-Ratespiel „Luther oder Hitler“. Die Hörenden stimmten per Handzeichen ab, ob dummes, sexistisches, menschenverachtendes Gewäsch wie „Die größte Ehre, die das Weib hat, ist allzumal, daß die Männer durch sie geboren werden“ oder „Die Juden sind ein Gift“ vom Reformator oder vom Diktator stammen – um am Ende zu erfahren, dass allesamt dem Theologenhirn entsprangen. „Ein fröhliches Luther-Jahr 2017!“, wünscht Hofhansl.

Nik Salsflausen ist freilich ein Künstlername. Aber ein bekannter: Im Herbst avancierte der 28-jährige Esslinger in der Stuttgarter Liederhalle zum deutschen Vizemeister im Poetry-Slam. Vermutlich belegte er den Platz des ersten Verlierers mit Absicht, um an der Lesebühne mitwirken zu dürfen – ein Meister dürfte ja wohl kaum ein „Mängeleksemplar“ sein. Der Journalistensohn und Lehrer baut auf die Gäste: „Man kann natürlich nicht jeden Monat zwei Spitzentexte schreiben. Der Gast aber kann ein Best-of präsentieren und den Abend retten, wenn sich das Stammpersonal mal wieder mangelhaft zeigt.“

Sie geben immer neue Macken preis

Gelegentlich verpasst Salsflausen seinem Mitstreiter Marius Loy auf der Bühne einen verbalen Seitenhieb, etwa weil in der Spüle das Geschirr modert – der ist nämlich auch sein Mitbewohner. Leser unserer Homepage kennen ihn: Er zählte zu jenen Poeten, die aufgefordert waren, sich gefälligst von der Zeitungsmeldung über eine Krabbe am Stuttgarter Hauptbahnhof inspirieren zu lassen und neben einfahrenden U-Bahnen respektive inmitten poesiedesinteressierter Tauben ein Gedicht vorzutragen. Die Videoclips sind noch online.

Loy sieht sich selbst als „Quotenlyriker“ der „Mängeleksemplare“. Das Dichten kann er nicht so recht abstellen, dieser Makel ist kaum zu verschleiern: Selbst bei prosaischen Texten vernimmt man plötzlich Endreime.

Fortan wollen die unvollkommenen vier Lesung für Lesung mehr von ihren Macken preisgeben. In der Pause erweckt man mittels Weinglas Überwindungskräfte, später beichtet jeder eine Unfähigkeit. Allein: Die Wahrheit spricht immer nur einer. Das Publikum entscheidet per Applaus, wem es glaubt. Stammgäste lernen die „Mängeleksemplare“ also immer besser kennen. Allen, die den Auftakt verpasst haben, sei gesagt, was man bereits weiß: Entweder hat Gorbunov panische Angst vor Schnecken. Oder hat Loy keinen Führerschein, weil er bei der Prüfung eine Radfahrerin anfuhr. Oder kann Salsflausen nicht Fahrrad fahren. Die Anwesenden vertrauten Hofhansl, die jedoch einräumte, geflunkert zu haben: „Nein, ich schnarche nicht so laut, dass mein Freund mich regelmäßig auf die Couch verbannt.“

Der Wahrheitsfindung ist’s also dienlich, zu kommenden Lesungen ein paar Schnecken mitzubringen.