Wenn wir uns alle mehr schämen würden, wäre die Welt vielleicht in einem weniger beschämenden Zustand.
Scham zieht sich als roter Faden durch die Gegenwartskultur. Wer weite Fernreisen unternimmt, ist mit Flugscham konfrontiert. Wer sich nicht in ein Flugzeug traut, schämt sich für die eigene Aviophobie. Wer aus Verhältnissen stammt, in denen das Geld nie für eine Flugreise gereicht hat und in denen „Aviophobie“ das unverständliche Fremdwort einer abgehobenen Elite war, empfindet vielleicht Herkunftsscham. Wer keinen Grund für Herkunftsscham besitzt, hat vermutlich Anlass zur Privilegienscham. Krankheitsscham, White Shame, Körperscham, Queer Shame, Plastikscham, Fleischscham, Zuckerscham, Konsumscham, Altersscham und viele weitere Abkömmlinge des Affekts bestimmen zeitgenössische gesellschaftliche Debatten. Als kraftvoller Katalysator der Schamdynamiken wirkt das Internet, das es erlaubt, im Schutzmantel der Anonymität einzelne Personen an den Pranger der sozialen Medien zu stellen.