Offen gegebene Placebos wirken nicht ganz so wie verdeckt verabreichte Zuckerpillen. Aber dass sie überhaupt wirken, gilt in der Medizin als Sensation. Foto: Mauritius

Reicht der Glaube an eine Therapie aus, dass Menschen gesund werden? Der Psychologe Winfried Rief hat das untersucht und sagt: „Der Placeboeffekt hat eine große Power.“

Marburg - Bisher galt der Placeboeffekt meist als Störfaktor in der Medizin. Nun beginnt man, sich die Wirkung von Scheinbehandlungen gezielt zunutze zu machen. Der Psychologe Winfried Rief von der Uni Marburg über die Macht des lange vernachlässigten Effekts.

Herr Rief, wie groß ist der Einfluss von Placeboeffekten in der Behandlung von Patienten?
Es gibt klare Hinweise, dass sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wirkung von Behandlungen auf Placeboeffekte zurückführen lässt. In klinischen Studien lässt sich in den Placebogruppen oft 50, 60 Prozent der Wirkung feststellen, die in der Gruppe mit der echten Behandlung auftritt. Das variiert natürlich je nach Erkrankung. Aber es lässt sich sowohl bei Krankheiten mit eher patientenorientiertem Ergebnis wie Schmerzen oder Depression beobachten als auch bei Erkrankungen mit eher biologischem Ergebnis wie Bluthochdruck. Selbst bei chirurgischen Eingriffen konnte man in einigen Studien auch in der Gruppe mit einer Scheinoperation eine ähnliche Wirkung beobachten wie in der Gruppe, bei der der Chirurg tatsächlich operativ etwas verändert hat.
Der Placeboeffekt ist also nicht bloß auf das subjektive Empfinden der Patienten zurückzuführen, wie Mediziner lange Zeit angenommen haben?
Nein, der Placeboeffekt ist real. Er lässt sich unter kontrollierten experimentellen Bedingungen hervorrufen und durch objektive Parameter feststellen: etwa durch Veränderungen des Blutdrucks oder durch physiologische Reaktionen im Gehirn.
Wie kommt der Effekt zustande?
Ein wichtiger psychologischer Mechanismus ist die Konditionierung. Der Körper nutzt offenbar bei der Placebowirkung die Wirkbahnen, die er zuvor schon durch eine echte medikamentöse Behandlung gelernt hat. Wenn ein Patient etwa schon früher Erfahrungen mit Opioiden (speziellen Schmerzmitteln, Anm. der Red.) hatte, springt dann als Reaktion auf eine Scheinmedikation eher das Opioidsystem in seinem Körper an.
Und welche Mechanismen gibt es noch?
Auch die Erwartungen des Patienten und das Verhältnis zwischen Arzt und Patient spielen eine wichtige Rolle. Je besser diese Beziehung ist, desto mehr kommen Placeboeffekte zum Tragen. Und umgekehrt: Je schlechter das Verhältnis ist, desto mehr Nebenwirkungen, sogenannte Noceboeffekte, treten auf.
Sie und andere Forscher wollen das lange Zeit vernachlässigte Potenzial von Scheinbehandlungen medizinisch nutzen. Was haben Sie konkret vor?
Die Placebowirkung hat eine so große Power, dass wir sie im medizinischen System nicht unkontrolliert ablaufen lassen sollten. Natürlich wäre es unethisch, einen Patienten darüber zu täuschen, dass in einer Tablette überhaupt kein Wirkstoff enthalten ist. Aber es gibt andere Möglichkeiten.
Und die wären?
Wir haben beispielsweise in einer Studie versucht, die Erwartungen von Patienten vor einer Herzoperation zu optimieren. Wir wussten schon aus vorangegangenen Untersuchungen, dass unabhängig von dem Verlauf der OP die Erwartungen von Patienten für die Zeit nach der Operation der beste Faktor ist, um vorherzusagen, wie es dem Patienten danach geht: Ob er sich dann als Invalide fühlt oder wieder aktiv am Leben teilnimmt. In einer Gruppe haben wir zusammen mit den Patienten für die Zeit nach der OP ein realistisches Bild entwickelt. Wir haben visualisiert, wie sie langsam wieder aktiv werden, sich allmählich wieder körperlichen Belastungen wie Gartenarbeit aussetzen können.
Wie sah das Ergebnis aus?
Wir konnten zeigen, dass es diesen Patienten im Vergleich zu anderen Patientengruppen, bei denen die Erwartungen nicht optimiert wurden, nach dem chirurgischen Eingriff am besten ging: Sie konnten am Leben wieder am aktivsten teilnehmen und fühlten sich am wenigsten durch den Eingriff eingeschränkt.
Bei diesen Ergebnissen handelte es sich um subjektive Einschätzungen der Patienten zu ihren Beeinträchtigungen und ihrer Lebensqualität. Haben Sie auch objektive Werte herangezogen?
Ja, bei Patienten mit einer psychologischen Vorbereitung klangen Entzündungsreaktionen nach der OP schneller ab. Der Heilungsprozess ist offensichtlich schneller vorangeschritten. Und der Stress durch die Beschwerden nach der OP war durch die psychologische Vorbereitung offenbar geringer, so dass die Heilung vermutlich besser ablaufen konnte.
Was gibt es noch für innovative Ansätze, Placeboeffekte zu nutzen?
Eine ehemalige Kollegin von mir, Yvonne Nestroriuc vom Uniklinikum Hamburg, hat für eine noch nicht veröffentlichte Studie versucht, die Erwartungen von Brustkrebspatientinnen zu beeinflussen. Die Betroffenen nahmen nach einer Brustkrebs-OP Medikamente gegen das Wiederauftreten des Krebses ein. Dabei ziehen die Medikamente häufig Nebenwirkungen wie Gelenkschmerzen nach sich. Die Forscher haben nun die Frauen vor der ersten Einnahme der Medikamente über die Nebenwirkungen aufgeklärt und mit ihnen darüber gesprochen, wie sie damit umgehen könnten, sich etwa von den Schmerzen durch einen Spaziergang ablenken zu können.
Und brachte diese Vorbereitung etwas?
Ja, in der Tat. Im Laufe von zwei Jahren berichteten sie von weniger Nebenwirkungen als Frauen, die nur eine emotionale Betreuung erhielten oder Patientinnen, die lediglich die medizinische Standardbehandlung bekamen.
Was halten Sie davon, Placebos offen, also mit dem Wissen des Patienten, zu geben?
Das ist gerade ein großes Thema. Es umgeht die ethischen Probleme, die entstehen, wenn man den Patienten ohne ihre Kenntnis keine Medikamente, sondern Zuckerpillen gibt. Man muss zwar sagen: Die offen gegebenen Placebos wirken nicht ganz so effektiv wie die verdeckt verabreichten. Aber dass sie überhaupt wirken, gilt in der Medizin als Sensation.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Möglicherweise verbinden die Patienten trotz des Wissens eine positive Erwartung mit der Placebobehandlung. Das sieht man ja an den Millionen Menschen in Deutschland, die homöopathische Mittel nehmen. Da glaubt ja auch nicht jeder, dass darin ein potenter Wirkstoff enthalten ist. Dennoch nehmen sie die Mittel, weil sie hoffen, dass diese ihnen helfen.

Zur Person

Winfried Rief
(Jahrgang 1959) ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie und leitet das gleichnamige Institut an der Philipps-Universität Marburg so- wie die Psychotherapie-Ambulanz an der Philipps-Universität als Psychologischer Psychotherapeut und Supervisor.

Forschung
Er befasst sich wissenschaftlich unter anderem mit psychologischen Faktoren bei der Entstehung und Bewältigung körperlicher Beschwerden. Darüber hinaus untersucht er Placebo- und Nocebo-Effekte und forscht in den Bereichen Schmerz, Essstörungen und Angststörungen. Rief war unter anderem Gastprofessor an der Harvard Medical School Boston. Er ist Mitglied der WHO/APA-Expertenkommission für Klassifikation.