Pisa-Koordinator Andreas Schleicher Foto: dpa

Deutschland hat im internationalen Schülervergleich in den letzten Jahren aufgeholt. Aber noch immer hat fast jeder fünfte 15-Jährige große Schwierigkeiten mit Lesen und Rechnen.

Berlin/Stuttgart - Als im Dezember 2001 die erste Pisa-Studie veröffentlicht wurde, war Deutschland schockiert. Bildungsrepublik – von wegen. Beim internationalen Schülerleistungsvergleich der OECD landeten die Schüler aus Deutschland nur im unteren Mittelfeld. Ein Fünftel der 15-Jährigen, die an den Tests teilgenommen hatten, lag unter der Kompetenzstufe zwei – und wurde damit als Risikogruppe eingeschätzt. Kompetenzstufe zwei gilt als Minimum, damit Menschen am Leben in einer modernen Gesellschaft teilnehmen können. Eine spätere Auswertung nach Bundesländern ergab, dass es zwischen den einzelnen Bundesländern große Unterschiede gab. Baden-Württemberg lag hinter Bayern auf Platz zwei – aber immer noch unter dem OECD-Durchschnitt.

Mit vielen Programmen – unter anderem dem Ausbau der Ganztagsschulen – haben die Schüler aus Deutschland inzwischen aufgeholt. Bei der jüngsten Pisa-Studie 2012 lagen sie über dem OECD-Durchschnitt. Aber es gibt immer noch zu viele, die sich im Lesen und Schreiben, in der Mathematik oder den Naturwissenschaften schwertun. Das ergab eine Sonderauswertung, die am Mittwoch vorgestellt wurde. Rund 141 000 der 15-Jährigen (18 Prozent) können einfachste Mathematikaufgaben kaum oder nicht lösen (OECD-Schnitt: 23 Prozent), beim Lesen und Schreiben tun sich 14 Prozent (OECD: 18 Prozent) schwer damit, einfache Texte zu verstehen. Bei den Naturwissenschaften gelten 12 Prozent (18 Prozent) als sehr schwache Schüler. Und fast 70 000 der 15-Jährigen (9 Prozent; OECD: 12 Prozent) schneiden in alllen drei Bereichen schlecht ab. Den Schulen gelingt es kaum, herkunftsbedingte Nachteile auszugleichen. Im Gegenteil. Die Schüler mit den größten Benachteiligungen sammeln sich an bestimmten Schularten und Schulen.

Für schwache Leistungen gibt es nach den Erkenntnissen der Wissenschaftler nicht einen einzelnen Grund, sondern mehrere Faktoren, die Betroffene oft während ihres ganzen Schullebens beeinträchtigen. In allen Staaten sind Schüler, die aus wirtschaftlich benachteiligten Familien kommen, aus Einwandererfamilien stammen und zu Hause eine andere Muttersprache als die Schulsprache sprechen, im Durchschnitt weniger erfolgreich. Auch Kinder Alleinerziehender und aus ländlichen Regionen sind im Nachteil, ebenso Kinder, die weniger als ein Jahr im Kindergarten waren oder Klassen wiederholen mussten.

Risikofaktor Armut

In Deutschland sind Armut, fehlender Kindergartenbesuch und Sitzenbleiben die größten Risikofaktoren. Sehr schlechte Mathematikleistungen erbringen 31 Prozent der Kinder aus ärmeren Familien, bei Kindern aus wohlhabenden Familien sind es sechs Prozent. 34 Prozent der Kinder, die kaum den Kindergarten besucht hatten, taten sich schwer mit Matheaufgaben, von denen, die mehr als ein Jahr Vorschulerziehung genossen, waren es nur 14 Prozent.

Aus Sicht der Forscher spielen Lehrerversorgung und Unterrichtsausfall ebenfalls eine große Rolle. Auch von außerunterrichtlichen Angeboten profitieren die Schüler. Arbeitsgemeinschaften und andere Angebote sind in der Regel an Gymnasien deutlich umfangreicher als an anderen Schularten.

Was nach dem Pisa-Schock in den Ländern geschehen sei, könne sich sehen lassen, sagte Pisa-Koordinator Andreas Schleicher am Mittwoch. „Von der Leistungsspitze ist Deutschland immer noch weit entfernt.“ Die Unterstützung von Schulversagern müsse aber noch ernster genommen werden. Nach wie vor hänge der Schulerfolg zu sehr von der sozialen Herkunft ab. Die wenigsten schwachen Schüler gibt es in chinesischen Regionen und in Singapur, am erfolgreichsten in Europa sind Estland und Finnland.

Baden-Württemberg setzt auf Frühförderung

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Claudia Bogedan, wertete die Studie „als insgesamt gutes Zeugnis für das deutsche Bildungssystem“. Es zahle sich aus, dass die Kultusministerkonferenz einen besonderen Blick auf die leistungsschwächeren Schüler gelegt habe, unter anderem mit einer Förderstrategie, sagte Bremens SPD-Bildungssenatorin.

Baden-Württembergs Kultusminister Andreas Stoch (SPD) erklärte, die Studie zeige, dass beim Regierungswechsel 2011 in vielen Bereichen Handlungsbedarf bestanden habe. „Sie benennt verschiedene Stellschrauben, an denen angesetzt werden muss, und genau diese Punkte haben wir in Angriff genommen und dafür viel Geld investiert.“ Um den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu entkoppeln, sei die frühkindliche Bildung „quantitativ wie qualitativ massiv gestärkt“ worden. Die Förderung der Betriebsausgaben in der Kleinkindbetreuung liegt 2016 bei knapp 800 Millionen Euro – 2011 waren es 150 Millionen. Einen wichtigen Beitrag zu besserer Förderung aller Schüler sieht Stoch auch bei den neuen Gemeinschaftsschulen. „Wir haben das stark selektive Schulsystem – etwa durch die Einführung der Gemeinschaftsschule – in Richtung eines integrativeren Schulsystems weiterentwickelt.“

Aus Sicht der OECD hat Schulversagen einen hohen Preis. Wenn ein Fünftel der Schüler praktisch kaum Kompetenzen erwerbe und ausfalle, entgingen der Volkswirtschaft Milliarden an Erträgen.