Im Restaurant Astor traf sich im Paris der dreißiger Jahre die feine Gesellschaft. Foto: www.mauritius.sodatech.com

Süffig erzähltes Zeitpanorama: Pierre Lemaitres neuer Roman „Die Farben des Feuers“ handelt vom Verfall eines Pariser Bankhauses in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und des aufkommenden Faschismus.

Stuttgart - Wer einen Roman derart fulminant beginnt, hängt die Messlatte für alles Kommende hoch. Der Franzose Pierre Lemaitre scheut dieses Risiko nicht und beginnt sein neues Buch mit einer unvergesslichen Szene: Der hoch angesehene Bankier Marcel Péricourt wird zu Grabe getragen – ein pompöser Akt, auf den ganz Paris schaut und an dem sogar der Staatspräsident teilnimmt. Doch mit einem Mal werden die Feierlichkeiten aufs Empfindlichste gestört, denn auf den Sarg fällt der Körper eines siebenjährigen Jungen, der offenbar aus dem zweiten Stock eines Hauses gesprungen ist. Dass es sich dabei ausgerechnet um Paul, den Enkel des toten Finanzmanns, handelt, steigert das Chaos und macht dieses Begräbnis zu einem medialen Großereignis.

Man schreibt das Jahr 1927, und wer Lemaitres 2013 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Wir sehen uns dort oben“ gelesen hat, erkennt – was der deutsche Verlag zu kaschieren sucht – schnell, dass es sich um eine Art Fortsetzung handelt. Knapp ein Jahrzehnt umspannt „Die Farben des Feuers“, ein Jahrzehnt der politischen Hochspannung in Europa, das von der Weltwirtschaftskrise und dem aufkommenden National(-sozial-)ismus geprägt ist.

Im Zentrum des figurenreichen Settings steht das Bankhaus Péricourt und dessen Niedergang. Marcels Tochter Madeleine ist als Erbin eingesetzt, doch ihre Ahnungslosigkeit in Finanzdingen prädestiniert sie nicht eben dazu, eine angeschlagene Bank durch schweres Wasser zu steuern. Ihr Hauptinteresse gilt ohnehin ihrem Sohn Paul, der als Folge seines Fenstersturzes gelähmt ist.

Versierter Erzähler

Umgeben ist Madeleine von Männern, die nicht nur ihr Bestes wollen: dem Prokuristen Joubert, der vergeblich hoffte, Madeleine zu ehelichen, ihrem Onkel Charles, der auf zu großem Fuß lebt und sich als Parlamentsabgeordneter wichtig tut, und ihrem Liebhaber, dem Hauslehrer André, der sich als Journalist profilieren will und mit populistischen Kolumnen („Braucht Frankreich einen Diktator?“) den Volkszorn anstachelt.

Pierre Lemaitre, der sich zuerst als Verfasser von Kriminalromanen einen Namen gemacht hat, ist ein versierter Erzähler, der die sich um das Haus Péricourt rankenden Intrigen geschickt mit den politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen im Frankreich jener Jahre verknüpft. Angereichert wird das Ganze durch mehrere Nebenstränge, die dem Text eine gewisse Süffigkeit verleihen. Da ist zum Beispiel Pauls tatkräftiges Kindermädchen Vladi, das aus Polen stammt, kein Wort Französisch spricht und ihren Zögling aus seinen Depressionen reißt, und da ist Paul selbst, der seine Leidenschaft für die Oper und insbesondere für die berühmte Sängerin Solange Gallinato entdeckt und deren Werk bald in- und auswendig kennt. Für ihn und seine Mutter verändern sich die Lebensverhältnisse jedoch alsbald.

Als sich die Wirtschaftskrise zuspitzt und irrigerweise rumänisches Erdöl als beste Kapitalanlage angepriesen wird, geht Madeleines Vermögen verloren. Das prachtvolle Anwesen muss verkauft werden – aparterweise an Madeleines alten Prokuristen. Dass die vom Schicksal Gebeutelte dennoch nicht klein beigibt und auf Rache sinnt, gehört zu den stärksten Kapiteln dieses opulenten Romans.

Lemaitre greift, wie er im Nachwort ausführt, auf historische Fakten zurück, variiert sie und entfaltet so ein Sozialepos, das die verhandelte Epoche anschaulich und spannungsvoll vergegenwärtigt. Er tut dies mit den Mitteln des herkömmlichen Romans, baut kriminalistische Elemente ein, wenn sich nach und nach abzeichnet, was Paul dazu brachte, aus dem Fenster zu springen, und lässt gleichermaßen an die großen französischen Erzähler des 19. Jahrhunderts wie an ihre Nachzügler des „roman-fleuve“, an Jules Romains („Die guten Willens sind“) oder Roger Martin du Gard („Die Thibaults“), denken.

Katastrophen und Untergänge

Auch Marcel Proust wird en passant eine kleine Hommage dargebracht, wenn Madeleine und Paul in dessen Geburtshaus in Auteuil ziehen oder Musikliebhaber Paul, um die Nachbarn zu schonen, sein Zimmer wie einst Proust am Boulevard Haussmann mit Korkplatten auskleidet.

Das Konventionelle von Lemaitres Erzählweise, das selbst vor Leseranreden nicht zurückschreckt, mindert ein klein wenig die Freude an der unterhaltsamen Lektüre, denn wo so viel von psychischen und historischen Erschütterungen zu lesen ist, wo der Berliner Reichstagsbrand und der Judenhass in Deutschland eingeblendet werden und ein neuerlicher Weltkrieg nicht mehr als Hirngespinst erscheint, hätte man sich einen weniger gefälligen Ton gewünscht. Wer von Katastrophen und Untergängen erzählen möchte, sollte im 21. Jahrhundert mehr wagen, als sich vor allem an den bewunderten Vorbildern der realistischen Tradition zu orientieren. Wie Pierre Lemaitre das in dem geplanten dritten Band seines Zyklus anpacken wird, darauf darf man trotzdem gespannt sein.

Am 11. April stellt Pierre Lemaitre seinen Roman im Stuttgarter Literaturhaus vor.

Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart. 479 Seiten, 25 Euro.