Pierre Boulez als Dirigent Foto: AP

Vielen wird er als der Komponist in Erinnerung bleiben, der die Opernhäuser in die Luft sprengen wollte. Dabei war Pierre Boulez in erster Linie nicht ein wilder Widerständler, sondern ein konsequenter, scharfsinniger Logiker und Konstrukteur der neuen Musik. Am Dienstagabend ist Pierre Boulez in Baden-Baden gestorben.

Wäre Pierre Boulez nicht zwei Mal – einmal in Lyon und einmal in Paris – bei den Aufnahmeprüfungen durchgefallen, dann gäbe es heute keine Musik von ihm, sondern höchstens eine Boulez’sche Regel. Dann wäre er Mathematiker geworden. Dann hätte ein anderer Dirigent 1976 in Bayreuth bei Patrice Chéreaus „Jahrhundert-Ring“ am Pult des Orchesters gestanden, ein anderer Komponist hätte 1978 das Pariser Klang-Forschungsinstitut IRCAM gegründet, und der Dirigent Hans Rosbaud hätte nicht ganze 44 Proben für die Einstudierung eines verstörenden, hoch komplexen, einzigartigen Werkes gebraucht, mit dem Boulez 1955 bei den Donaueschinger Musiktagen der große Durchbruch gelang.

Die Kantate „Le marteau sans maître“ („Der Hammer ohne Meister“) ist ein schillerndes Spiel mit den Möglichkeiten des musikalischen Materials. Prägend ist die Konsequenz, mit der Boulez Tonabstände, Harmonien, rhythmische Muster, Motive und Farbkombinationen durchdekliniert. „Seriell“ nannte man damals diese Art, das musikalische Material nach unterschiedlichen Kriterien zu ordnen, und keiner hat so konsequent ja: so mathematisch seriell komponiert wie Pierre Boulez.

Konsequente Ordnung des musikalischen Materials

Diese Konsequenz reicht bis hin zu den jüngeren seiner insgesamt nur etwa dreißig Werke, von denen jedes ganz eigen, jedes ein Unikat ist, das sich mit neuen Klängen und Konstruktionen beschäftigt. Sogar die süffige, ja geradezu luxuriöse Erweiterung von fünf Sätzen, mit denen Boulez sein frühes Klavierwerk „Notations“ für großes – nein: riesiges – Orchester neu fasste, lebt noch von ihr – verdeckter nur, moderater, vielleicht auch ein wenig altermild – und hat sich doch gleichzeitig auch von ihr entfernt.

Der späte Pierre Boulez wollte keine Opernhäuser mehr in die Luft sprengen, weil sie nur noch Touristen, Staub und Schmutz enthielten. Er hätte wahrscheinlich auch nicht mehr seinen Kollegen Hans Werner Henze wegen dessen bleibender Verbindung zu Tonalität und Melodie als „lackierten Friseur“ beschimpft und den nach Zufallsoperationen komponierenden Komponisten John Cage wohl auch nicht mehr einen Faulpelz genannt. Wer dem alten Pierre Boulez noch begegnete, bevor er sich, immer gebrechlicher werdend, in seinem 90. Lebensjahr mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurückzog, erlebte einen Mann, der viel lachte: einen durch und durch freundlichen, nachsichtigen, uneitlen Künstler: einem Menschenfreund, der alles Polemische der frühen Jahre abgelegt hatte.

Kalkül und Gefühl

Aber auch die Wildheit und Unerbittlichkeit des jungen Boulez ist ein Klischee, das es zu hinterfragen gilt. Wer sich in die frühen Werke des Franzosen hineinhört, der erlebt beileibe nicht nur abstrakte Ergebnisse mathematischen Kalküls. Gerade wenn man die Erstfassungen seiner Werke mit den zahlreichen späteren Versionen vergleicht, die der manische, notorisch unzufriedene Überarbeiter Boulez verfasste, entdeckt man staunend, dass selbst strengste Stücke Momente enthalten, in denen Boulez’ Musik fast so klangsinnlich klingt wie die seines Landsmanns Claude Debussy, die ihm vor allem sein Kompositionslehrer Olivier Messiaen nahebrachte. „Ich wollte“, so Boulez, „bewusst mit der Tradition brechen, nie aber mit der Geschichte.“

Manchmal schleicht sich in seinen Stücken sogar der musikalische Emotionsträger, die Melodie, keck in die Ohren des Lauschenden. Ja, es kann sogar mal passieren, dass – wie im zweiten Satz („Très vif“) der Orchester-„Notations“ – dem Zuhörer lustvoll das Tanzbein zuckt. Sogar die Originalfassung, die „Douze Notations“, sind weit mehr als nur zwölf je zwölftaktige und zwölftönige Klavierstücke. Hinter der kühlen Konstruktion schillert wildes, farbiges Leben.

Transparenz und Kommunikation

Kühle Kopfmusik ist sogar der „Marteau sans maître“ ganz und gar nicht. Auch dieses Stück enthält Augenblicke, in denen sich der Konstrukteur mit dem Genießer versöhnt, in denen Präzision und Intuition, Pragmatismus und Poesie ineinanderfließen. „Man muss“, hat der Komponist einmal geschrieben, „seine Revolution nicht nur konstruieren, sondern auch träumen.“ „Er fühlte mit seinem Kopf und dachte mit seinem Herzen“: So hat der Dirigent Daniel Barenboim seinen Kollegen gesehen. Ganz ähnlich sah es Wolfgang Rihm – und lobte, die „liebevolle Sachlichkeit“ des Komponisten-Kollegen. Ähnliches meint auch der Pianist Pierre-Laurent Aimard mit Blick auf Boulez’ frühe Werke: Hier schlummere „ein Vulkan unter dem Eis“.

Am Ende geht es gar nicht um Provokation. Es geht auch nicht um mathematische Exerzitien. Es geht um sinnliche Klänge in größtmöglicher Transparenz und Konsequenz, um musikalische Kommunikation. Boulez will verstanden werden. In einem Winkel seines Wesens ist der Künstler auch Pädagoge. Und so wie der (autodidaktisch ausgebildete) Dirigent Boulez ohne Taktstock auskam („Mit den Händen kann man mehr ausdrücken als mit einem Holzstäbchen“), so wie dieser in seinen Gesten am Pult nüchtern, schlicht und ökonomisch agierte, so hat auch der Komponist Boulez alles Dekorative überwunden. Boulez: Das ist Klarheit und Essenz. An sie vor allem wird und sollte man sich erinnern: jetzt, wo mit dem „Robespierre der Musik“ ein weiterer der großen alten Vorkämpfer der Avantgarde von uns gegangen ist. Boulez war der Vorletzte seiner Generation. Der Letzte ist Helmut Lachenmann.