Im sogenannten Super-Kamiokande-Teilchendetektor in Japan fanden Foto: University of Tokyo

Der Physik-Nobelpreis geht an zwei Forscher, die herausgefunden haben, dass Neutrinos eine Masse haben. Nun müssen die Modelle der Physik neu gedacht werden.

Stuttgart/Karlsruhe - Guido Drexlin ist fasziniert von Neutrinos. Der Karlsruher Physiker forscht über diese kleinen Teilchen, die in einer gigantischen Anzahl durch das Universum sausen. Nach den Lichtteilchen, den Photonen, sind die Neutrinos die am zahlreichsten vorkommenden Teilchen des Universums. Die Erde wird beständig mit ihnen bombardiert. Viele dieser Neutrinos entstehen, wenn kosmische Strahlung auf Atomkerne in der Erdatmosphäre trifft – andere bei den Kernreaktionen in der Sonne. Einen weiteren Schub erhält Drexlins Begeisterung durch die Ergebnisse der diesjährigen Nobelpreisträger in Physik, Arthur McDonald und Takaaki Kajita.

Die Physiker aus Kanada und Japan werden ausgezeichnet, weil sie die Schwingungen von Neutrinos nachgewiesen und damit gezeigt haben, dass die elektrisch neutralen Elementarteilchen eine Masse haben. „Wir haben vorher angenommen, dass die Neutrions masselos sind“, sagt Drexlin. Die Erkenntnisse der Nobelpreisträger seien daher bahnbrechend.

Die Teilchen ändern ihre Identität

Die Elementarteilchen sind die Verkörperung des Nichts. Sie gleiten leichter durch die Materie als der Wind durch geöffnete Fenster. Selbst Astrophysiker nennen sie Geisterteilchen. Sie entstehen im Innern der Sonne, wenn Sterne explodieren, Schwarze Löcher aufeinanderprallen oder Gammablitze zucken.

Neutrinos sausen nahezu mit Lichtgeschwindigkeit durch das Universum. Die ausgezeichneten Physiker haben mit ihren Experimenten gezeigt, dass Neutrinos dabei ihre Identität ändern. Dies habe das Verständnis für die Wirkungsweise der Materie fundamental verändert und könne sich entscheidend auf das Bild der Menschheit vom Universum auswirken, heißt es in der Begründung des Nobel-Komitees. Das Verhalten der Neutrinos beschreibt Physiker Arnulf Quadt, Vorstandsmitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), wie folgt: „Das ist, wie wenn man sich im Supermarkt einen Birnen-Joghurt kauft und zu Hause plötzlich einen mit Erdbeere hat.“

Bisher hatten Neutrinos keine Masse

Das Phänomen, dass Neutrinos ihre Identität wechseln können, wird Neutrino-Oszillation genannt: Die drei Sorten – Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino – verwandeln sich spontan in eine der anderen Arten. Überraschend war diese Entdeckung vor allem, weil solche Oszillationen nur möglich sind, wenn Neutrinos eine Masse haben. Im Standardmodell der Teilchenphysik aber wurden die Teilchen bis dahin als masselos angenommen. Mit den Entdeckungen wurde klar, dass das Modell offensichtlich noch nicht komplett ist.

Der Japaner Takaaki Kajita erkannte, dass Neutrinos aus der Erdatmosphäre auf dem Weg zum Super-Kamiokande-Teilchendetektor in Japan ihre Zustände wechseln. Zur gleichen Zeit zeigte McDonalds Forschergruppe an der Queen’s University in Kingston, dass von der Sonne kommende Neutrinos auf dem Weg zur Erde nicht verschwinden: Stattdessen wurden sie am Sudbury-Neutrino-Observatorium (SNO) mit einer anderen Identität erfasst.

Die Forscher arbeiten in Laboren unter der Erde

Bis zu seiner großen Entdeckung brauchte es viele Jahre, viele Millionen Euro und viel geduldige Forschung. Dann konnte Arthur McDonald gemeinsam mit einem großen Forscherteam in einer Mine zwei Kilometer unter der kanadischen Erde nachweisen, dass Neutrinos eine Masse besitzen. „Glücklicherweise hatten wir ein gutes Team, und wir wussten, dass wir ein Stück Wissenschaft vor uns hatten, das erforscht werden konnte, und das – egal was dabei herauskommt – sehr bedeutend sein würde“, sagt der Nobelpreisträger.

McDonald sei stets bescheiden geblieben, sagt der Physiker Thomas Lohse von der Berliner Humboldt-Universität, der ihn vor zwei Jahren bei einer Preisverleihung traf. McDonald wirke wie ein Mensch, der „nicht versucht, seine Leistung herauszustellen“, und stets auf die Arbeit seines Teams verweise. McDonald wurde nach der Bekanntgabe per Telefon in die Pressekonferenz zugeschaltet und sagte, das Experiment, bei dem er die Metamorphose der Elementarteilchen exakt nachgewiesen habe, sei für ihn ein Aha-Erlebnis gewesen. Den Nobelpreis zu erhalten sei eine „sehr ehrfurchtgebietende Erfahrung“. Auf die Frage, welche Phänomene in der Teilchenphysik jetzt noch zu klären seien, sagte er, die Wissenschaftler wüssten zwar nun, dass Neutrinos eine Masse haben, wollten aber natürlich wissen, wie groß sie genau ist.

Karlsruher Forscher wollen die Teilchen nun wiegen

Genau dort setzt auch die Arbeit der Karlsruher Forscher rund um Drexlin an. Jetzt wo man wisse, dass die Teilchen Masse besitzen, ist es Zeit herauszufinden, was sie wiegen. 100 Mitarbeiter sind im Rahmen des KATRIN-Projekts (KArlsruhe TRItium Neutrino) an der Universität Karlsruhe damit beschäftigt. „Wir sind kurz davor, mit der Messung zu beginnen“, sagt Drexlin. Die Forscher wollen herausfinden, wie das Universum entstanden ist und vor allem welche Rolle die Geisterteilchen dabei spielen. „Die nächsten Jahre mit KATRIN werden eine sehr spannende Zeit.“ Der Nobelpreis komme zur richtigen Zeit – und aus Karlsruher Sicht auch an den richtigen Mann. Denn Takaaki Kajita war erst letztes Jahr dort und hat Vorlesungen für die Studenten gehalten. „Er hat uns alle begeistert und ist für viele ein Vorbild“, sagt Drexlin,

Dieses Lob wird dem als bescheiden bekannten Japaner sicher gefallen. Zu seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis sagt er: „Meine Arbeit bringt nicht gleich der Menschheit Nutzen. Wenn man es schön ausdrückt, dann erweitert so eine Forschung wie meine den Horizont des menschlichen Wissens.“ Einen Grundstein für die weitere Arbeit von Guido Drexlin hat er gelegt.