Die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch hat im Februar ihr Werk „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ veröffentlicht. Foto: Mirjam Kluka

Die Eltern sind enttäuscht, die Kinder plagen Gewissensbisse. Unterschiedliche Lebensvorstellungen und falsche Erwartungen belasten oft die Eltern-Kind-Beziehung. Philosophin Barbara Bleisch erklärt im Interview, was Eltern eigentlich von ihren Kindern erwarten dürfen – und umgekehrt.

Stuttgart - Die Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern ist eine einzigartige. Im Gegensatz zu Freundschaften oder Partnerschaften lässt sie sich weder aufkündigen noch in irgendeiner Form ersetzen. Allein deshalb geht mit ihr eine spezielle Verletzlichkeit einher, die für Erwartungen und damit auch für Enttäuschungen sorgt. Doch allein aufgrund der Tatsache, dass man Sohn oder Tochter ist, schuldet man seinen Eltern nichts, findet die Schweizer Philosophin und Autorin von „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“, Barbara Bleisch.

Frau Bleisch, was ist ein gutes Kind?
Das erwachsene gute Kind respektiert seine Eltern und nimmt Rücksicht auf deren Verletzlichkeit. Die Eltern-Kind-Beziehung ist eine ganz spezielle; sie ist extrem prägend, unersetzbar und unkündbar. Entsprechend verletzlich sind wir mit Blick auf Verrat, Verlust und Enttäuschung. Das gute Kind geht nicht achtlos über Erwartungen hinweg. Es respektiert aber auch sich selbst und die eigenen Grenzen.
Und umgekehrt: Was macht gute Eltern aus?
Gute Eltern erziehen ihre Kinder in die Freiheit, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Sie sehen ihre Kinder nicht als Garanten des eigenen Lebensglücks, sondern als eigenständige Persönlichkeiten, die möglicherweise auch ganz andere Wege wählen, als sie gewünscht hätten.
In Ihrem Buch stellen Sie die These auf, dass Kinder ihren Eltern nichts schulden. Kinder haben also keinerlei Pflichten gegenüber ihren Eltern?
Doch, natürlich. Grundlegenden Respekt schulden wir allen Menschen. Ich meine aber, dass wir allein aufgrund des Umstands, dass wir Töchter und Söhne sind, nicht in der Schuld unserer Eltern stehen. Allfällige Pflichten ergeben sich vielmehr aus einem lebendigen Interesse aneinander und aus einer liebenden Bindung – wenn es sie denn gibt.
Es ist also auch nicht meine Pflicht als Kind, meine alten oder kranken Eltern zu pflegen, obwohl sich diese insbesondere in meinen ersten Lebensjahren für mich aufgeopfert haben?
Elternschaft ist eine enorm kosten- und zeitintensive Tätigkeit. Dennoch überzeugt es mich nicht, die Eltern-Kind-Beziehung als eine Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner zu sehen. Kinder haben weder um Existenz noch um Pflege gebeten. Sie lebenslang in der Schuld der Eltern zu sehen, käme fast einer Art ‘Erbsünde’ gleich. Viele Kinder sind aber dankbar und möchten etwas zurückgeben. Daran ist nichts auszusetzen! Ich sage nur: Man kann Kinder nicht dazu zwingen.
Leider nicht in allen Familien, aber doch in den meisten, besteht eine starke emotionale Nähe zwischen Eltern und Kindern. Ist es nicht allein diese, die moralisch verpflichtet?
Doch, dem widerspreche ich nicht. Das kennen wir aus Freundschaften: Weil wir einander lieben, fühlen wir uns einander auch verpflichtet. Wenn Freunde sich auseinanderleben oder zerstreiten, versiegen jedoch mit der Zeit auch die Pflichten, uns speziell umeinander zu kümmern. Bei Eltern und Kindern scheint das komplizierter.
Inwiefern?
Sie hören nicht auf, Kinder und Eltern zu sein. Positiv ausgedrückt, bleibt eine Verbundenheit; negativ eine Verletzlichkeit. Und wenn wir moralisch sensibel sind, nehmen wir auf diese Rücksicht.
Wie kann ich meinen Eltern, unter Berücksichtigung dieser speziellen Verletzlichkeit, vermitteln, dass ich ihren Erwartungen nicht immer gerecht werden kann oder möchte?
Max Frisch sagte einmal, man solle sich die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, dass man hineinschlüpfen kann, nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen. Das Bild zeigt ganz schön, wie wir einander unangenehme Wahrheiten vermitteln sollen.
Bedeutet die Tatsache, dass ich meinen Eltern nichts schulde, im Umkehrschluss, dass es die Aufgabe von Eltern ist, sich nicht abhängig von ihren Kindern zu machen?
Wer liebt, macht sich immer verletzlich. Es kann nicht das Ziel menschlichen Zusammenlebens sein, sich emotional nie abhängig oder verletzlich zu machen. Diese Verletzlichkeit darf aber nicht als Drohkulisse missbraucht werden: Wenn Du mir nicht hilfst, dann lass ich mich gehen; wenn Du mich nicht anrufst, dann vereinsame ich. Wir sind alle ein Stück weit auch verantwortlich für unser eigenes Glück.