Flüchtlinge überschreiten im August 2015 die griechische Grenze in Richtung Mazedonien. Foto: EPA

Wo sind eigentlich die Philosophen, wenn man sie wie jetzt bei Asyl und Zuwanderung mal braucht? Sie sind da und liefern, wie die Politik, ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie viele und welche Flüchtlinge wir aufnehmen sollen.

Stuttgart - Gut möglich, dass sich Immanuel Kant heute in seinem Grabe dreht in Kaliningrad, dem früheren Königsberg. In gewisser Weise sind wir alle zu dem „Weltbürger“ geworden, den der deutsche Denker 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ heraufbeschwor. Vom bequemen Desinteresse früherer Tage, wenn in China der sprichwörtliche Sack Reis umfällt, ist nicht viel geblieben. Wenn in der Volksrepublik die Wirtschaft schwächelt, kaufen die Menschen in Peking weniger Milch und die Bauern hierzulande bekommen ein Problem. Der Bürgerkrieg in Syrien schien erst weit, nun sind viele der vor ihm Geflüchteten hier. Als normal empfinden das aber lange noch nicht alle. Der „Willkommenskultur“ stehen bisher ungekannte Wahlerfolge der neuen Rechten gegenüber, brennende Flüchtlingsheime sogar. Vom allgemein anerkannten Recht auf globale Bewegungsfreiheit, dem von Kant postulierten „Besuchsrecht“ für jedermann, sind wir weit entfernt. Darin hatte auch Kant die Möglichkeit vorgesehen, fremde Besucher an der Staatsgrenze abzuweisen, wenn das nicht ihren „Untergang“ bedeutet. Nicht einmal das jedoch, in den Artikeln eins und 16 des Grundgesetzes verankert, kann in diesen Zeiten mehr als gesellschaftlicher Konsens gelten.

Alle Kriegsopfer hereinlassen? Überhaupt alle Flüchtlinge? Oder gar keine? Eine maximale Zahl festlegen? Und danach die Grenzen schließen? Eine Auswahl treffen? Gar nur Schutz suchende Christen aufnehmen, wie das in osteuropäischen Staaten diskutiert wird? Die Debatte rund um diese Fragen hat die ohnehin schon sozial aufgewühlten europäischen Gesellschaften in die wohl tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt. Zutiefst moralische Fragen sind dies zudem, kein Wunder also, dass die Kirchen so aktiv zupacken in der Flüchtlingskrise. Die religionsunabhängige Ethik dagegen ist bisher kaum in Erscheinung getreten.

Deshalb hat im Herbst vergangenen Jahres, kurz nach der historischen Kanzlerin-Entscheidung für die Einreise der in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge, die Gesellschaft für Analytische Philosophie einen Wettbewerb ins Leben gerufen. Mehr als hundert Denker aus ganz Europa befassten sich mit der einen Frage, die den Kontinent spaltet wie lange keine andere mehr: „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ Herausgekommen ist ein Reclam-Buch gleichen Namens mit jenen zehn Essays, die eine unabhängige Jury als die besten ausgezeichnet hat.

Die Erdkugel gehört allen Menschen

An der Berliner Humboldt wurden die Beiträge unlängst vorgestellt. „Wo sind eigentlich die Philosophen, wenn man sie mal braucht?“ eröffnetet der dort lehrende Geert Keil den Abend.

Der Grundsatz, dass Menschen in Not geholfen werden muss, kollidiert mit anderen moralischen Anforderungen und Ansprüchen. „Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung“, hat Peter Sloterdijkdazu gesagt, wegen seiner Aggressivität ein „Unsatz“ und damit wenig hilfreich, wie die Herausgeber Thomas Grundmann und Achim Stephan in ihrem Vorwort anmerken. Ihre Autoren beschreiben das Spannungsverhältnis zwischen Hilfspflicht und Eigenschutz erfreulicherweise differenzierter. Matthias Hoesch von der Uni Münster etwa, einer der Preisträger, erläutert dies am in der Philosophie bekannten Bild von den Spaziergängern am See, die einen Ertrinkenden retten müssen, wenn sie dabei nicht ihr eigenes Lebens riskieren, sondern „allenfalls eine leichte Erkältung“.

Überhaupt führt Hoesch unsere Hilfspflicht auf ganz elementare Überlegungen zurück – zum Beispiel, dass nicht die Art der Notlage entscheidend ist, sondern ihre Schwere. Allein dies führt die gegenwärtige Unterscheidung zwischen politisch verfolgten Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen auf der einen sowie den Armutsmigranten auf der anderen Seiten ad absurdum. Natürlich darf und sollte Nothilfe idealerweise vor Ort stattfinden. Wenn dort aber nicht geholfen werden kann „oder faktisch nicht geholfen wird“, so Hoesch, besteht aus seiner Sicht eine Aufnahmeverpflichtung. Auch deshalb weil dem Prinzip der territorialen Gerechtigkeit zufolge die Erdkugel allen Menschen gehört und ihnen ein Recht zur Weiterreise zusteht, wenn sie am angestammten Platz ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Eine Wiedergutmachungspflicht gesellt sich hinzu: Das globale Finanz- und Handelssystem oder Waffenverkäufe haben dazu beigetragen, dass manche Länder ihre Armut bisher nicht haben überwinden können. Marcel Twele von der Berliner Humboldt-Uni schreibt: „Solange wir nicht alle Ressourcen, die wir aus moralischer Sicht aufbringen müssten, tatsächlich für die langfristige Beseitigung von Armut und anderen Fluchtursachen einsetzen, dürfen wir die Flüchtlinge, die jetzt um Aufnahme bitten, nicht abweisen.“

Kein Staat alleine kann die Menschenrechte aller sichern

Realpolitisch relevanter als die Theorie einer idealen Welt, in der alle gemeinsam und damit ohne größere Belastung den Notleidenden helfen, sind jedoch Hoeschs Annäherungen an den aktuellen Ist-Zustand. Es sind derzeit eben nicht alle Staaten bereit ihren fairen Anteil bei er Aufnahme von Flüchtlingen zu übernehmen; speziell die Länder Osteuropas oder Syriens Nachbarn rund um den Persischen Golf haben sich hierbei besonders negativ hervorgetan. Da Deutschland sein faires Soll „mit Sicherheit überschritten“ hat, gibt es Hoesch zufolge keine moralische Verpflichtung mehr, aktiv weitere Flüchtlinge ins Land zu holen. Anders stellt sich die Lage dar, wenn es um eine mögliche Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze geht. Aus der Sicht des Philosophen ist dies nur möglich, wenn der Nachbarstaat seinen fairen Anteil noch nicht erreicht hat – das moralische Todesurteil für das bisherige europäische Dublin-Verfahren, wonach ein Asylantragsteller dort zu versorgen ist, wo er zuerst EU-Territorium betreten hat.

Nicht alle Teilnehmer der philosophischen Debatte teilen diese eindeutige Priorität der Hilfspflicht. Marie-Luisa Frick von der Universität Innsbruck etwa hat ihrem Essay eine Überschrift gegeben, die eher einer alltagstauglichen Moral für das Hier und Jetzt das Wort redet: „Wenn das Recht an Verbindlichkeit verliert und die Zonen der Unordnung wachsen, rettet uns keine kosmopolitische Moral“. Sie greift dabei auf Hannah Arendts „Aporie der Menschenrechte“ zurück, der zufolge es diese unveräußerlichen Menschenrechte faktisch nicht gibt, sich auf sie zu berufen daher wenig zielführend sei. Frick hält es daher für gefährlich, „wenn aus dem Blick gerät, dass Menschenrechte zwar in der Tat keine Nationalität haben, aber kein Staat alleine alle Menschenrechte aller Menschen sichern kann“. Die Innsbruckerin hält daher „eine flexible Obergrenze“, wie sie ihre eigene Regierung in Wien beschlossen hat, nicht nur für vertretbar, sondern gar für „alternativlos“. Bei Null, wie in manchen Ländern praktiziert, dürfe sie jedoch liegen – ein gewisses Opfer müssen die zur Hilfe Verpflichteten auch aus ihrer Sicht bringen. „Es darf von uns erwartet werden, die Aufnahmekapazitäten unserer Gesellschaften für Flüchtlinge zu erhöhen.“

Sozialer Friede in Gefahr

Wie groß aber sollte diese Kapazität sein? Wo läge die so umstrittene Obergrenze? Fabian Wendt aus Bielefeld sieht sie in seinem Beitrag „Gerechtigkeit ist nicht alles“ dort, wo der soziale Friede in Gefahr gerät, auch dies freilich eine nicht unbedingt genau zu fassende Kategorie. Manifestieren der Zustrom zur neuen Rechtspartei AfD, der aufbrechende Rassismus oder vermehrt registrierte Attacken auf Andersdenkende bereits einen solchen Zustand des sozialen Unfriedens? „Der soziale Friede in Deutschland ist sicherlich noch nicht zerstört“, meint Wendt: „Es ist nun aber auch gerechtfertigt, weniger Flüchtlinge aufzunehmen als im vergangen Jahr.“ Diesen Ratschlag freilich hat die Politik bereits rigoros umgesetzt – unter anderem über die Schließung der Balkanroute und das EU-Türkei-Abkommen.

Professionelle Moralratgeber

Ob die politisch Verantwortlichen regelmäßig professionelle Moralratgeber um eben jenen Rat fragen, wissen wir nicht. Zumindest unbewusst verläuft die politische Debatte in Europa entlang der Linien, die auch in den philosophischen Beiträgen zur Flüchtlingsfrage deutlich werden. Die Denker liefern somit keine unumstößlichen moralischen Antworten, jedoch immerhin die Erkenntnis, dass nicht alle in der Debatte vertretenen Positionen automatisch unethisch sind – von der offen zur Schau gestellten Ausländerfeindlichkeit einmal abgesehen. Die im Vorwort angekündigten „Versuche, die Flüchtlingsdebatte in unserem Land zu versachlichen“, können genau dazu als Grundlage dienen in einer Zeit, in der „einigen Menschen erkennbar der normative Kompass abhanden gekommen“ ist. Nötig wäre es.