Dieser harmlos aussehende junge Mann verspeist nicht nur seine eigenen Texte, wie man in unserer Bildergalerie sehen kann, sondern hat ganze Enzyklopädien verschlungen: der österreichische Autor Philipp Weiss. Foto: Amrei-Marie / CC BY-SA 4.0

„Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ von Philipp Weiss ist das wohl bemerkenswerteste Debüt seit langem. In einer Stuttgarter WG hat der österreichische Autor gezeigt, wie man die ganze Welt in ein Buch verwandelt.

Stuttgart - Dieser Roman besteht aus fünf Büchern und mindestens drei Dimensionen. Die erste Dimension ist sein Erscheinungsbild, ein Buchkunstwerk voller spektakulärer Schönheiten, der entfesselte Glückstraum eines jeden Typographen. Kein Band gleicht dem anderen, und das viel beschworene Glück des Anfassens, Tastens, Herumstreifens, das Buchseiten über die Vermittlung von Bedeutungen hinaus zu schenken vermögen, lässt eine Leidenschaft ahnen, die alle andern übersteigt: die Leidenschaft, die Welt und alles, was in ihr steckt, als Buch zu begreifen.

Die zweite Dimension ist Text, viel Text, über tausend Seiten. Darunter eine aus zwölf Enzyklopädien bestehende Enzyklopädie, in der sich eine gewisse Paulette Blanchard im revolutionären Brausen des anbrechenden industriellen Zeitalters ihre Geschichte zusammenbuchstabiert. Hinzu kommt das Notizbuch ihrer Urenkelin Chantal, einer misanthropischen Physikerin und Klimaforscherin; weiter eine vergleichsweise konventionelle Erzählung über die vergebliche Liebe eines Wiener Künstlers zu eben jener Chantal; ein Band mit Aufzeichnungen, in denen ein Neunjähriger seine Eindrücke während der Reaktor-Katastrophe von Fukushima festhält; schließlich ein Manga-Comic über die letzten Tage der Menschheit: Paris, Tokio, Aufbruch und Abgesang der Moderne einschließlich des Dazwischen, Davor und Danach und allem, was auf theoretischem Gebiet gut und teuer ist.

Dann die dritte Dimension: Eine mit jungen Leuten prall gefüllte Stuttgarter WG in der fortgeschrittenen Phase des Anthropozäns, jenes, wenn es nach Chantal geht, gerade verdämmernden Zeitalters, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde geworden ist. Ein sich von seinem Publikum in Alter und Habitus kaum unterscheidender Autor stellt in dem für die Lesungsreihe „Zwischenmiete“ des Literaturhauses charakteristischen Ambiente seinen ersten Roman vor.

Freiheit und Fisch-Algorithmen

Gerade erklärt er seinen aufmerksam lauschenden Zuhörern, dass er seinem Verlag, Suhrkamp, vorgeschlagen habe, die fünf Bücher, aus denen sich sein Werk zusammensetzt, ohne Autorennamen zu veröffentlichen. Was dieser entschieden abgelehnt habe. Und deshalb ist es höchste Zeit, an dieser Stelle endlich Ross und Reiter zu nennen. Philipp Weiss, 1982 in Wien geboren, bisher vor allem als Theaterautor in Erscheinung getreten, und als der erste Teilnehmer am Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb, der seinen Text nach der Lektüre kurzerhand verspeist hat – dieser mit kecker Bescheidenheit auftretende, nicht mehr ganz junge Mann hat das vielleicht merkwürdigste, auf jeden Fall aber größenwahnsinnigste Debüt seit langem vorgelegt. Und während die Kritiker sich leicht nervös an dem Beweis abmühen, bei derlei könnte es sich nur um eine zudem sprachlich defiziente Monumental-Wikipederei handeln, auf jeden Fall gescheitert, stellt man in der netten, freilich im Laufe des Abend zuhörends sauerstoffärmeren Stuttgarter WG fest, dass dieses irre Roman-Netzwerk sich in eine hochgradig unterhaltsame Performance überführen lässt. Was es rechtfertigt, von einer dritten Dimension zu sprechen: Es ist nicht nur schön anzusehen und inhaltsreich, sondern auch außerordentlich wohlklingend.

Man merkt Weiss die Herkunft vom Theater an, auch wenn er erklärt, sein hybrider Text verdanke seine außerordentliche Gestalt gerade dem Wunsch, sich über die Restriktionen der Bühne hinwegzusetzen. Der Roman gewissermaßen als vollkommenere Realisationsebene postdramatischer Aufführungspraxis, als Dialog zwischen Büchern. Und plötzlich stehen wunderbare Sätze im Raum: die Atemlosigkeit einer jungen Frau aus gutem Hause, die von der Freiheitsekstase des Pariser Commune-Aufstandes 1871 angefallen wird. Und wie man sich die Liebesbeziehung ihrer Urenkelin vorstellen muss, macht diese Passage aus der Erzählung ihres verlassenen Liebhabers hinreichend deutlich: „Als ich Chantal das letzte Mal sah, bevor sie endgültig verschwand, begann sie, da wir nach der Liebe gerade nackt im Bett lagen, über die Entwicklung der Fisch-Algorithmen zu sprechen.“ Oder der meisterhaft gebaute Konditionalsatz aus Chantals „Cahiers“, der über zwei Seiten hinweg die gesamte Evolutionsgeschichte wie ein kosmologischer Staubsauger in sich zurücknimmt. Natürlich ist das größenwahnsinnig, aber ungeheuer komisch. Und löst ein, was der Titel des Ganzen verheißt: „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“.

Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Roman. Suhrkamp Verlag. 1064 Seiten, 48 Euro.