Aus dem Jahr 1890 stammt das älteste Foto des Cannstatter Fußballclubs, rechts steht Philipp Heineken. Foto: Stadtmuseum

Er trägt einen großen Namen: Heineken. Mit den Bierbrauern hat Philipp Heineken jedoch nichts zu tun. Der Bad Cannstatter war ein Weltenbummler, Lebenskünstler und ein Verrückter in Sachen Fußball. Er spielte selbst, schrieb Bücher, gründete den VfB und machte aus dem „Goal“ das „Tor“ .

Stuttgart - Verwittert ist die Tafel, kaum noch zu lesen ist der Name. Wer sich die Mühe macht, vor dem Familiengrab in die Knie zu gehen, kann auf dem Stein den Namen entziffern: Philipp Heineken. Hier auf dem Steigfriedhof in Bad Cannstatt ruht Heineken, geboren am 15. Januar 1873 bei New York, gestorben am 9. Februar 1959 in Zuffenhausen. Dass die Daten verwischt sind, sein Name ausbleicht, ist sinnbildlich.

Vergessen haben ihn Publikum und Öffentlichkeit, dabei war er wohl unter den Enthusiasten in Deutschland, die sich für den Fußball begeisterten, der besessenste, vermutlich auch der begabteste. Er spielte Fußball, er trainierte Mannschaften, er übersetzte die Regeln „der beliebtesten Rasen-Spiele“ vom Englischen ins Deutsche, er gab die erste Fußball-Zeitschrift heraus, er war Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes, er übersetzte deutschte Fachbegriffe wie „Goal“, er war einer der Gründungsväter des VfB Stuttgart – und ein Lebemann, Freigeist und Hallodri. 1910 verschwand er in die USA, ließ Frau und Tochter zurück. Dort verlor sich seine Spur, bis er nach dem Zweiten Weltkrieg überraschend wieder in Stuttgart auftauchte.

Sein Leben bleibt in großen Teilen ein Rätsel. Nicht einmal Historiker kannten seinen Namen. Zwar hatte Manfred Schmid vom Planungsstab Stadtmuseum Stuttgart schon einmal von Heineken gehört, aber welche zentrale Rolle er beim Aufbau des Fußballs in den Gründerjahren des Sports spielte, entdeckte er erst bei der Recherche für die Ausstellung „Wie der Fußball nach Württemberg kam“ im Stadtmuseum Bad Cannstatt. „Er tauchte immer wieder in Dokumenten auf, und so ergaben sich immer mehr Verweise darauf, was er eigentlich alles gemacht hatte“. Im Archiv der Deutschen Sporthochschule in Köln entdeckte Schmid alle drei Jahrgänge der Zeitschrift „Der Fußball“. Die hatte Heineken ab 1894 in einem Stuttgarter Verlag herausgegeben. Im Rugby-Archiv in Heidelberg fanden sich ebenfalls etliche Dokumente zu Heineken. Dazu muss man wissen, dass man in den Anfangsjahren noch eine wilde Mischung aus Fußball und Rugby spielte, die heutigen Regeln schälten sich erst allmählich heraus.

Spross einer Auswandererfamilie

Der Fußballer Heineken begann für Schmid sichtbar zu werden, der Mensch Heineken bleibt dagegen im Dunkeln. Wie verdiente er seinen Lebensunterhalt? Warum flüchtete er Hals über Kopf? Was machte er in den USA? Warum nahm er nach seiner Rückkehr nie Kontakt zu alten Weggefährten auf, obwohl er schrieb, „die gemeinschaftlich auf dem Wasen verbrachten Stunden waren doch schöne, glückliche und sorgenfreie Zeiten gewesen“? Warum verkroch er sich geradezu, obwohl er die ganze Cannstatter Hautevolee kannte? Die Söhne von Daimler und Maybach hatten etwa mit ihm beim FV Cannstatt gekickt.

Darauf fand auch Schmid keine Antworten. Doch fangen wir von vorne an. Heineken ist der Spross einer Auswandererfamilie. Als 1878 der Vater stirbt, zieht Mutter Pauline mit Philipp und seinem jüngeren Bruder Michael zurück nach Bad Cannstatt. Dort besaß die Familie in der heutigen Daimlerstraße eine Gasfabrik. Unweit davon ist der Wasen, wo britische Internatsschüler den deutschen Jugendlichen Rugby und Fußball beibrachten. Die Brüder waren begeistert. „Seit 1880 konnte ich das Spiel selbst verfolgen, zunächst nur als begeisterter Zuschauer und mit meinen Freunden als glücklicher Träger der Malstangen von und zum Spielfeld.“ Die Malstangen bilden das Tor beim Rugby, anfangs nannten auch die Fußballer ihr Tor „Mal“, weil ihnen das englische Goal schwer über die Lippen ging. Heineken war einer derjenigen, die das „Goal“ zum „Tor“ machten. Auch um dem Vorwurf der Altvorderen zu entgehen, Fußball sei „eine undeutsche Sportart“. Da war Heineken durchaus modern, in anderem aber ein Kind seiner Zeit. So schrieb er in seinem Werk „Die beliebtesten Rasen-Spiele“ von 1893: „Wir denken, gerade die zukünftige Mutter sollte wie der Knabe in anmutigen Spielen sich kräftigen im Hinblick auf den Beruf als Gattin und Mutter.“ Man sieht, es war ein langer Weg zur Gleichberechtigung.

Im selben Jahr schrieb sich Heineken als Student für Maschinenbau und Elektrotechnik ein, und er verließ den Cannstatter Fußballclub, weil die Mitspieler über einen von ihm verfassten Spielbericht bruddelten. Er ging zum FV Stuttgart 93, wurde dort Kapitän und später Ehrenmitglied. 1913 fusionierte der FV Stuttgart mit dem Kronenclub Cannstatt zum VfB Stuttgart.

Hals über Kopf verschwand er

Doch Heineken spielte nicht nur in Stuttgart eine bedeutende Rolle, er lektorierte und überarbeitete die ersten einheitlichen deutschen Fußballregeln, er verfasste das erste Deutsche Fußball-Jahrbuch, Reisen im Dienste des Fußballs führten ihn nach England, Spanien und Südamerika, er saß im Deutschen Reichsausschuss für die Vorbereitung der Olympischen Spiele 1900 in Paris und 1904 in St. Louis. Heute würde man so einen Menschen als Strippenzieher bezeichnen, quasi eine Art Thomas Bach, Chef des Internationalen Olympischen Komitees in spe, der Frühzeit. Doch damals konnte man als Funktionär sein Leben nicht bestreiten, überhaupt ist rätselhaft, wo Heineken sein Geld herhatte. Schmid: „Die Familie hatte das Gaswerk an die Stadt verkauft, vielleicht lebte er vom Erbe.“

1910 ging er für General Electric nach Pittsburgh. Hals über Kopf verschwand er, ließ Frau und Tochter zurück. Damit verschwindet er aus den Chroniken. 1930 kam noch ein Buch von ihm heraus: „Erinnerungen an den Cannstatter Fußball-Club“. 1935 erschien ein Aufsatz von ihm im Rugby-Jahrbuch über „das Amerikanische Universitäts-Fußballspiel“. Als seinen Wohnort gibt er New York an. Nach dem Krieg stand er plötzlich bei der Tochter vor der Tür. Trotz ihres Grolls pflegte sie ihren Vater. Heineken starb 1959 in Zuffenhausen, fast vergessen. Bis zur Ausstellung im Stadtmuseum erzählte nur eine Tafel am Steigfriedhof von ihm. Und die ist kaum lesbar und verwittert

Die Ausstellung „Wie der Fußball nach Württemberg kam“ ist im Stadtmuseum Bad Cannstatt, Marktstraße 71/1, bis zum 28. Juli, geöffnet mittwochs von 14 bis 16 Uhr, samstags von 14 bis 17 Uhr, sonntags von 12 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.