Per Puzzle zum Phantom: Rainer Wortmann hat 4500 Gesichtsvorlagen Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Rainer Wortmann (50) ist der Chef der Phantombildzeichner im Land. Der Mann vom Landeskriminalamt gibt seit 20 Jahren gesuchten Tätern ein Gesicht. Er weiß auch, wie man ein guter Zeuge wird.

Stuttgart - Phantombilder sind eine Wissenschaft für sich. Keiner weiß das besser als Kriminalhauptkommissar Rainer Wortmann. Seine Kunst ist es, Opfern und Zeugen jenes Bild zu entlocken, das sie nach der Begegnung mit einem gesuchten Straftäter im Kopf haben.

Herr Wortmann, was fällt an mir auf?
Wenn ich Sie so anschaue: Eine Brille, wenige Haare auf der hohen Stirn, da rechts am Augenlid ein Warzenansatz, bei Kinn und Mund geht es ein bisschen nach vorne. Ein Grundmuster hätte ich jetzt schon.
Für einen Straftäter wäre ich also nicht unscheinbar genug?
Nein, das sollten Sie bleiben lassen.
Auch ohne Brille – und vielleicht mit Bart?
Trotzdem. Der Augenabstand ist derselbe. Wissen Sie, es gibt eine Proportionslehre. Die besagt, wo Gesichtsteile normalerweise platziert sein müssten. Wenn alles symmetrisch ist, dann ist das Gesicht sehr hübsch, aber ein Allerweltsgesicht. Helene Fischer etwa, die sieht top aus, hat für uns Phantombildersteller aber nichts Besonderes. Das brauchen wir aber: dicke Nase, große Ohren.
Worauf müsste man bei Ihrem Gesicht achten?
Da wäre die Brille. Die Nase, die ist ein bisschen größer. Helle Augen. Und die Augenbrauen! Die sind so geschwungen. Manche sagen, so ein bisschen wie bei Jack Nicholson.
Der hat so ein fieses Gesicht...
Es gibt kein typisches Verbrechergesicht. Die Mimik kann täuschen. Ein Mensch hat 6000 Mimiken zur Verfügung.
Wenn ich Opfer werde oder auch Zeuge, was muss ich mir also vordringlich merken?
Die Wiederkennung eines Gesichts ist eine angeborene Funktion. Personen, die uns wichtig sind, positiv wie negativ, werden abgespeichert. Deshalb muss man einem Raubopfer oder Tatzeugen nicht sagen, pass auf die Augen auf oder den Mund. Das geht automatisch. Augen, Nase, Mund machen hauptsächlich die Wiedererkennung aus.
Kann man sich aber nicht täuschen? Bei schlechtem Licht? Bei großer Entfernung?
Unsere Augen erkennen in der Nähe Details, in der Entfernung hingegen Umrisse. Umrisse werden vom Gehirn ergänzt, da kann es sein, dass eine Person anders abgespeichert wird, als sie aus der Nähe aussieht.
Kann man auch abgelenkt werden? Etwa von einer Sonnenbrille oder einer Waffe?
Da gibt es tatsächlich den sogenannten Fokuseffekt. Das gilt besonders, wenn man in den Lauf einer Schusswaffe blickt. Man schaut auf das, was die Bedrohung ausmacht. Gerade Bankangestellte sollten solche Sachen auch wissen, dass sie sich von dem Fokuseffekt lösen und sich das Gesicht anschauen.
Die meisten Leute würden behaupten, sie könnten niemals eine Beschreibung für ein Phantombild abgeben. Wie bringen Sie die Zeugen trotzdem dazu?
Das Bild, das man im Kopf hat, ist mit Worten zu beschreiben sehr schwer, das gebe ich zu. Wir wissen aber, wie wir das abrufen können. Wir versetzen den Zeugen oder die Zeugin gedanklich an den Tatort und die Tatzeit zurück, damit er das Bild wie vorm inneren Auge wieder sieht. Das funktioniert. Denn die Person war wichtig, die ist gespeichert. Dann zeigen wir Vergleichspersonen.
Aus Ihrer Datenbank?
Wir haben 4500 virtuell erstellte Gesichter gespeichert. Aufgeteilt nach Geschlecht, nach Alter, nach Phänotypus, die äußere Erscheinungsform. Die haben wir seit über 15 Jahren gesammelt, digitalisiert, aktualisiert. Zusätzlich gibt es viele Accessoires wie Brillen und Hüte, fortlaufend der aktuellen Mode angepasst.
Ach, und daher stammen die typischen Polizeiformulierungen vom Südeuropäer, Westasiaten oder Nordafrikaner?
Ja, das kommt vom Erkennungsdienst, das ist eine gewisse Grundeinteilung. Für die Täter, die in Deutschland Straftaten begehen, ist diese Basis mit 4500 Gesichtern ausreichend. In den USA gibt es sogar nur 1500 Gesichtsvorlagen. Ich selbst habe in meiner Laufbahn 6000 Menschen erkennungsdienstlich behandelt, also intensiv angeschaut. Ich kenne die Muster. Eine Personenbeschreibung hat etwa 260 Merkmale. Wir legen eine eingegrenzte Vorauswahl vor, dann sucht sich der Zeuge die Gesichtsteile raus, die dem Gesuchten ähnlich sehen. Das könnte er nie mit Worten beschreiben.
Er? Sind Männer bessere Zeugen als Frauen?
Nein, das hängt nicht vom Geschlecht, sondern von Interessen ab. Eine Friseurin kann mir die Haare viel besser beschreiben, Verkäufer im Laden, die gewohnt sind, Stammkunden schnell wiederzuerkennen, sind bei Gesichtern besser trainiert. Es gibt aber auch ein bis zwei Prozent Super-Recognizer.
Auch Hormone sollen angeblich helfen – und zwar Kuschelhormone .
Das haben Sie in meinem Buch „Phantombilder“ gelesen! Oxytocin. Das ist ein Hormon, das bei Geburten ausgeschüttet wird, damit das Baby auf jeden Fall die Mutter erkennt. Ein natürliches Produkt, das tatsächlich die Wiedererkennungsfähigkeit erhöht, wir aber natürlich so noch nicht eingesetzt haben...
Sie haben halt Ihren Computer. Muss ein Phantombildzeichner eigentlich künstlerisch begabt sein?
Ein Phantombildersteller muss grundsätzlich alles umsetzen können, was ein Zeuge beschreibt. Da reicht ein Computer durchaus. Es hat aber auch viele Vorteile, wenn ich zeichnen kann, wenn es keine Vorlagen gibt. Im Land entstehen jährlich 300 bis 350 Phantombilder.
Sind Sie als Talentzeichner zum Phantombildspezialisten geworden?
Nein, umgekehrt. Ich musste für die Aufnahmeprüfung für einen Kurs in den USA bei der FBI Academy das Porträtzeichnen lernen und mich damit bewerben. Das hat prima geklappt. Seither ist das dann auch mein Hobby geworden.
Man sieht’s an der Wand: Kohlezeichnungen von Audrey Hepburn und Johnny Depp. Haben Sie eine Privatgalerie?
So ein paar Hundert Zeichnungen.
Und beim LKA sind Sie Fachkoordinator für die Phantombildersteller im Land – wie viele gibt es denn inzwischen?
Wir sind ein Team von etwa 40 Phantombilderstellern, gleichmäßig übers Land verteilt.
Ist das ein Hauptberuf?
In Baden-Württemberg ist das ein Nebenjob, der bei der Kriminaltechnik angesiedelt ist. Die meisten Kollegen kommen aus dem Erkennungsdienst.
Wie hoch ist die Erfolgsquote?
Die liegt bei 30 bis 50 Prozent. Und die Ähnlichkeit ist stets überraschend hoch.
Erinnern Sie sich an Ihr erstes Phantom?
Noch sehr gut. 1998, ein Messerstecher, der Personen in der Stadtbahn verfolgte und am Ortsrand angriff. Ein Opfer aus Heslach, das schwer verletzt wurde, sollte ihn beschreiben. Ich konnte in der Nacht davor kaum schlafen. Alles war noch neu, und wir haben sechs Stunden für das Bild gebraucht. Normal sind es anderthalb bis drei Stunden.
Das Bild führte zum Ermittlungserfolg?
Ja! Es war ein 31-Jähriger, der noch eine Reihe anderer Gewalttaten begangen hatte. Etwa in einem SSB-Linienbus. Der Tatverdächtige sah dem Phantombild allerdings gar nicht ähnlich.
Und er wurde trotzdem wiedererkannt?
Aus seinem Bekanntenkreis bekamen wir einen Hinweis. An was er erkannt wurde, schwer zu sagen. Irgendwas war’s wohl. Es reicht ja manchmal auch die Mimik oder der Blick. Für mich jedenfalls war der Erfolg Grund genug, die nächsten 20 Jahre nichts anderes zu tun.