Der Beruf der Pflegerin verlangt eine große Zugewandtheit. Foto: dapd

Thomas Schickle, der Geschäftsführer der Diakonie- und Sozialstation Ludwigsburg, spricht über den Pflegenotstand im Landkreis, das Imageproblem des Pflegeberufs und Nachholbedarf.

Ludwigsburg -

Laut Experten läuft Deutschland in der Altenpflege auf einen Katastrophe zu, weil Fachkräfte fehlen. Im Landkreis Ludwigsburg gehört der Personalmangel längst zum Alltag.

Herr Schickle, wie groß ist der Pflegenotstand im ambulanten Bereich im Landkreis?
Wir spüren den Fachkräftemangel, er trifft uns aber noch nicht mit voller Wucht. Ein Viertel der Diakonie- und Sozialstationen muss Anfragen nach ambulanter Pflege auf eine Warteliste von etwa zwei Wochen setzen. Im Bereich Hauswirtschaft können drei Viertel der Stationen nicht mehr sofort auf die Anfragen nach Haushaltshilfen reagieren. Die Personalsituation der einzelnen Stationen ist insgesamt aber uneinheitlich.
Wie sieht es im Strohgäu aus?
Korntal-Münchingen hat Personalengpässe. In Münchingen gibt es fast 70 Prozent mehr Nachfragen nach hauswirtschaftlichen Leistungen als 2016. In Korntal ist die Zahl dieser Kunden um 20 Prozent auf 116 gewachsen. Hemmingen könnte vom Fleck weg drei Fachkräfte einstellen. Gerlingen dagegen kann die gestiegene Nachfrage solide bedienen und wächst weiter. Ditzingen hat keinen Engpass. Auch wir in Ludwigsburg können unsere offenen Stellen noch gut besetzen und beabsichtigen, den Dienst auszuweiten.
Ein Grund für das Mehr an Anfragen ist das Pflegestärkungsgesetz II seit Januar.
Durch die Pflegereform haben mehr Berechtigte als bisher Zugang zu Leistungen des Pflegegrads I mit dem Entlastungsbetrag von monatlich 125 Euro. Der Betrag wird meist für hauswirtschaftliche Leistungen eingelöst. Seit 2017 können im Landkreis 4000 Menschen mehr erstmals den Entlastungbetrag nutzen. Laut Schätzungen löst noch nicht einmal die Hälfte aller Berechtigten ihren Anspruch ein. Der Hauptgrund dürfte Unwissenheit sein.
Warum bewältigen manche Stationen die Flut an Anfragen besser als andere?
Das kann an der Größe liegen. Je größer eine Station ist, desto leichter ist es für sie, Personal entsprechend einzusetzen. Die Nachwuchsgewinnung spielt auch eine Rolle. Unser großes Thema ist die Ausbildung. Die ambulante Pflege ist eine vergleichsweise junge Ausbildungsbranche – sie bildet erst seit rund zehn Jahren aus. Dass wir das tun, wissen viele Bewerber noch nicht. Zudem verfügen noch nicht alle Stationen über notwendige Praxisanleiter für Lehrlinge. Im Landkreis stehen 60 Ausbildungsplätze zur Verfügung. Doch die Nachfrage ist mit 41 Azubis zu gering. Dabei liegt die Vergütung mit fast 1100 Euro brutto weit über dem, was in vielen anderen Lehrberufen üblich ist. Auch die Vorzüge der vielseitigen Ausbildung müssen besser kommuniziert werden. Um das zu ändern, werben wir seit einigen Jahren beispielsweise auf Berufsbildungsmessen.
Warum bildet die häusliche Pflege erst seit zehn Jahren aus?
Die bundesweit einheitlichen Regelungen traten erst Ende 2003 in Kraft. Unsicherheiten zur Finanzierung bewirkten eine weitere Verzögerung.
Der Fachkräftemangel beruht vor allem auf dem Imageproblem des Pflegeberufs. Was macht ihn so unattraktiv?
Die körperlich anspruchsvolle Arbeit schreckt sicher einige Bewerber ab. Der Attraktivitätsverlust hängt aber mehr an Mythen. Es heißt, die Bezahlung sei so schlecht. Das ist in Frage zu stellen. Fachkräfte bekommen im Diakonietarif ein Einstiegsgehalt von monatlich 2800 Euro brutto und erhalten mit steigender Berufserfahrung bis zu 3400 Euro brutto. In der stationären Pflege bewegt sich das Gehalt auf einem ähnlichen Niveau. Zum Imageproblem hinzu kommt bei uns eher ein Strukturproblem.
Was bedeutet das?
Vollzeitkräfte lassen sich schwieriger in die tägliche Dienstplanung integrieren. In der ambulanten Pflege muss sich eine Vollzeitkraft stark an die Wünsche der Kunden anpassen und mehrmals pro Woche geteilte Dienste arbeiten – am selben Tag früh und spät – , um das erforderliche Stundensoll zu erreichen. Das ist Mitarbeitern kaum zuzumuten und gefährdet mitunter die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten. Also stellen manche Stationen vorrangig Teilzeitkräfte im Umfang von 50 bis 80 Prozent ein. Diese Einschränkung erschwert die ohnehin schon diffizile Personalsuche. Ein weiteres K.-o.-Kriterium sind die Dienste am Wochenende.