Hans-Joachim Sonntag teilt sich im Stuttgarter Zamenhof ein Zimmer mit einem weiteren Bewohner. Solche Konstellationen sind künftig nicht mehr erlaubt – dann schreibt das Land Einzelzimmer vor Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Die Gesellschaft altert. Prognosen sagen einen höheren Bedarf an Pflegeheimbetten voraus. Doch viele Häuser im Land werden in den nächsten Jahren Plätze verlieren. Die Kosten steigen.

Stuttgart - Ein Haus am Rande des Stuttgarter Westens. Oben im Grünen steht es, erstaunlich ruhig. Modern sieht es aus, renoviert, in Teilen neu. Es ist ein Pflegeheim. Der Zamenhof wirkt nicht nur auf den ersten Blick picobello, wie aus einem Musterkatalog für Pflegeeinrichtungen. Einen „Guten Morgen“ oder ein „Grüß Gott“ wirft Hausleiter Marcus Koch den Bewohnern zu, die im hellen Flur zu ihm herüberwinken. Draußen auf der Terrasse genießt ein Grüppchen betagter Damen und Herren die frühe Morgensonne. Und doch herrscht hier großer Änderungsbedarf.

Schuld ist ein Papier, das sich sperrig Landesheimbauverordnung nennt. Sie gilt bereits seit 2009, die groben Vorgaben sind bekannt, doch erst vor wenigen Monaten nochmals präzisiert worden. Demnach müssen bis Mitte 2019 alle Pflegeheime in Baden-Württemberg bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Die Liste ist lang: Doppelzimmer sind künftig verboten, die Wohnräume müssen eine bestimmte Größe und einen Mindestzuschnitt haben. Heime, übrigens auch die der Behindertenhilfe, dürfen dann noch über maximal 100 Plätze verfügen, die Wohngruppen nicht mehr als 15 Menschen umfassen. Das alles zum Wohle der betagten oder behinderten Patienten. Und zur Sorge vieler Einrichtungen.

"Unterschiedlichste architektonische Verhältnisse"

„Grundsätzlich ist das alles gut und richtig“, sagt Marcus Koch im Zamenhof, „Doppelzimmer wollte ich noch nie haben.“ Die laufen schlechter als Einzelzimmer, trotzdem ist das Haus wie so viele andere fast vollständig belegt. Doch mit der Verordnung kann im Zamenhof wenig so bleiben, wie es ist. „Wir haben unterschiedlichste architektonische Verhältnisse bei den Doppelzimmern“, sagt Koch. Er kann nicht einfach zwei Einzelzimmer daraus machen. Deshalb wird sein Haus in den nächsten Jahren elf von bisher 108 Betten abbauen müssen.

Doch damit ist es nicht getan. „Wir haben Ebenen mit bis zu 39 Leuten“, sagt Koch. Wie und warum daraus maximal 15 werden sollen, weiß er nicht. „Das kann auch keiner begründen“, klagt Koch – und ergänzt kopfschüttelnd: „Doppelzimmer sind vom Land sogar lange gefördert worden.“ Jetzt würden sie verboten. „Das ist eine Schizophrenie.“

So wie im Stuttgarter Westen ist die Lage derzeit bei fast allen Pflegeheimen im Land. Zwar wissen sie schon seit Jahren, was auf sie zukommt, doch die Umsetzung gestaltet sich schwierig. „Wir setzen uns weiterhin für Korrekturen an der Verordnung ein, insbesondere, weil sie seinerzeit im Blindflug erlassen worden ist“, sagt Stefan Kraft. Der Landesbeauftragte beim Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) bemängelt, dass eine 100-Prozent-Einzelzimmerregelung für Bestandsgebäude nur in Baden-Württemberg vorgesehen sei. Zudem habe die damalige Landesregierung vorher nicht erhoben, wie viele Plätze durch die Verordnung wegfallen könnten.

Gut 100 000 Pflegeheimplätze gibt es im Land

Nach Berechnungen des Verbandes dürften das eine ganze Menge sein. Gut 100 000 Pflegeheimplätze gibt es im Land. Ende 2013 waren noch 35 700 davon in Doppelzimmern. Selbst wenn die Träger diese komplett umwandeln würden, stünden rund 18 000 Betten auf der Streichliste. „Und das nur aufgrund der Doppelzimmerregelung – die anderen Vorgaben sind da noch gar nicht berücksichtigt“, sagt Kraft. Ein Fünftel der Betten im Land könnte wegfallen.

Betroffen sind laut Verband besonders kleine, wohnortnahe Einrichtungen. „Sie tun sich schwer, die Anpassung zu stemmen“, weiß Kraft. Er befürchtet, dass manche solche Häuser schließen werden. Doch auch die Heime großer Träger lassen sich nicht ohne weiteres umbauen. Die Stadt Stuttgart etwa betreibt selbst acht Einrichtungen. Heute verfügen sie über 822 Plätze, übrig bleiben werden 709. „Wir erhoffen uns Ausnahmeregelungen und Fristverlängerungen“, sagt Sabine Bergmann-Dietz. Die Leiterin des städtischen Eigenbetriebs Leben und Wohnen tut sich schwer, Flächen für An- oder Neubauten zu finden und fordert: „In einem Ballungsraum wie Stuttgart muss es möglich sein, Häuser mit über 100 Plätzen zu betreiben.“ Das sei oft auch im Sinne der Bewohner, denen man dann ein besseres Programm bieten könne.

Prognose sagt steigenden Bedarf voraus

Laut Berechnungen des Stuttgarter Sozialamts könnten von den derzeit 5500 Pflegeheimplätzen in der Stadt bis zu 600 wegfallen. Dabei besagt eine Prognose, dass bis zum Jahr 2020 eigentlich 1100 zusätzliche Plätze nötig wären. Im Land dürfte die Zahl der vollstationär Pflegebedürftigen laut Sozialministerium in den nächsten 15 Jahren auf bis zu 130 000 anwachsen. „Man muss neue Heime planen und zusätzliche ambulante Pflegeformen unterstützen“, sagt Gabriele Reichhardt vom Stuttgarter Sozialamt. Man sei auf Grundstückssuche. Nach einem Runden Tisch gemeinsam mit dem Ministerium ist sie „optimistisch“, dass sich irgendwie umsetzbare Regelungen finden lassen.

Darauf setzen alle Träger. „Wir unterstützen zwar im Grundsatz die Einzelzimmervorgabe, in Bestandsbauten müssen aber Kompromisse möglich sein“, sagt Johannes Kessler vom Diakonischen Werk Württemberg. Dort sollen zwölf Prozent der heute 16 000 Plätze wegfallen. Die neuen Vorgaben sind für die Träger teuer. „Die Herstellungskosten eines einzigen neuen Pflegeplatzes betragen 100 000 Euro oder mehr“, so Kessler. Die Refinanzierung sei ein „sehr großes Problem“.

An dieser Stelle kommen die Patienten ins Spiel. Die dürften es in Zukunft nicht nur schwerer haben, einen Pflegeplatz zu finden, sondern müssen dafür wohl auch tiefer in die Tasche greifen. „Die Aussage von Sozialministerin Katrin Altpeter, für die Bewohner ändere sich nichts, ist falsch. Wir müssen die Kosten gegenfinanzieren“, sagt Sabine Bergmann-Dietz vom Stuttgarter Eigenbetrieb. Auftauchen wird dieser Betrag in den Investitionskosten, die jeder Pflegeheimbewohner auf seiner Rechnung findet.

Kostenfrage ist komplex

Beim Sozialministerium kann man die ganze Aufregung nicht so recht verstehen. „Die Träger haben ausreichend Möglichkeiten, auf Grundlage der bestehenden Verordnung die Frist um bis zu 15 Jahre zu verlängern oder Befreiungen zu beantragen“, sagt ein Sprecher. Anträge auf Befreiungen habe es bisher aber lediglich fünf gegeben. Viele Einrichtungen hätten die Vorgaben bereits umgesetzt oder „sind auf dem Weg dahin“. Die Kostenfrage sei komplex und lasse sich so einfach nicht beantworten.

Einen Mangel befürchtet das Land trotz des Abbaus nicht. Derzeit gebe es in Baden-Württemberg sogar einen leichten Überhang an Plätzen. „Lediglich in Ausnahmefällen sind Wartezeiten bei regionalen Engpässen oder bei besonders beliebten stationären Einrichtungen zu verzeichnen“, sagt der Ministeriumssprecher. Darüber hinaus verweist er darauf, dass „künftig Pflegebedürftige immer mehr zu Hause oder in alternativen Wohnformen betreut werden“. Ein steigender Bedarf für Pflegeheimplätze zeichne sich deshalb nicht ab. Nur auf künftige ambulante Pflegemodelle zu setzen, ist für Johannes Kessler von der Diakonie allerdings „eine Milchmädchenrechnung“, denn der Bedarf auch für stationäre Angebote werde „drastisch“ steigen.

„Wir können nichts mehr dran oder drauf setzen“, sagt Marcus Koch im Stuttgarter Zamenhof. Das moderne Haus im Grünen lässt sich nicht erweitern. Nach und nach werden Pflegeplätze verschwinden. „Ich bin gespannt, wie sich das aufs Budget und Personal auswirkt“, sagt der Hausleiter. Und auf die Versorgung der alternden Bevölkerung.

Hintergrund Landesheimbauverordnung

Die aktuell gültige Landesheimbauverordnung ist seit 1. September 2009 in Kraft. Sie legt fest, wie stationäre Einrichtungen der Altenpflege und Behindertenhilfe in Baden-Württemberg baulich beschaffen sein müssen. Vorrangige Ziele dabei sind „die Erhaltung von Würde, Selbstbestimmung und Lebensqualität“ der Bewohner.

Zu den wichtigsten Punkten gehören sowohl die Größe der Einrichtungen als auch der Zimmer. Demnach dürfen die Häuser höchstens 100 Heimplätze bieten, die einzelnen Wohngruppen maximal 15 Leute umfassen. Es dürfen nur noch Einzelzimmer angeboten werden, die mindestens 14 Quadratmeter groß sind.

Die Vorgaben gelten für alle Heime, die ihren Betrieb neu aufnehmen. Bereits bestehende Häuser müssen bis Ende August 2019 entsprechend umgebaut sein. In besonderen Fällen kann die Übergangsfrist um 15 Jahre ausgedehnt werden. (jbo)