Helga Wieland kümmert sich um ihre Findelpflanzen. Die meisten hat sie aus dem Müllcontainer des Haupfriedhofes. Foto: Heidi Knobloch

Im dicht bebauten Stuttgarter Westen hegt und pflegt Helga Wieland Pflanzen, die fast ausschließlich aus dem Müll des Hauptfriedhofs stammen. Das Garten- und Friedhofsamt gibt sich zurückhaltend.

Stuttgart - Ohne Blumen und Pflanzen kann Helga Wieland nicht leben. „Mindestens zwei Mal in der Woche hole ich mir einen frischen Strauß vom Markt“, erklärt die 81-Jährige, die seit sechs Jahrzehnten in einem Mietshaus am Leipziger Platz im Stuttgarter Westen lebt. Auch im Hinterhof des vierstöckigen Hauses aus den fünfziger Jahren sorgt die Rentnerin dafür, dass es grünt und blüht: Gut 100 Blumentöpfe und Kübel hat sie im Lauf der vergangenen 30 Jahre auf der mit Betonsteinen versiegelten Fläche gesammelt, die die Bewohner früher einmal als Parkplatz nutzten. Das Besondere: Fast alle Pflanzen hat Helga Wieland aus dem Müll gerettet, vor allem aus den Containern des Hauptfriedhofs in Neugereut. „Man erlebt sein blaues Wunder, wenn man dort hineinschaut: Die Leute räumen die Beete ab und werfen Pflanzen, die noch gut sind, einfach weg.“ Besonders am Sonntag, wenn es viele Besucher gebe, seien die Behälter voll.

Aus dem Müllcontainer statt aus dem Pflanzenmarkt

Die Liebe zu den Pflanzen aus dem Müll begann bei Helga Wieland bei einem Friedhofsbesuch. Die Pflanzenfreundin entdeckte im Müllcontainer einen üppigen Strauß roter Rosen: „Jemand hatte ihn entsorgt – dabei waren die Blumen noch ganz frisch“, berichtet sie und ist noch heute fassungslos über so viel Verschwendung. Dies war Anlass dafür, künftig genauer zu schauen, wenn sie die Gräber ihrer Angehörigen besuchte. Aus Achtung vor der Natur entschied sie: Besonders Stauden oder immergrüne Gewächse dürfen nicht einfach auf dem Kompost landen. So lud sie über die Jahre immer wieder Pflanzen auf ihren Trolley und transportierte sie mit der Bahn nach Hause, besorgte Tontöpfe, torffreie Erde und pflanzte sie ein. Im Laufe der Jahre kamen so an die 100 Gefäße zusammen: „Und jede Woche kommen neue hinzu.“ Deshalb wünscht sie sich Nachahmer: „So viel kann ich gar nicht mitnehmen, wie weggeworfen wird.“

Würdigung vom Verschönerungsverein

Zwar hat der Verschönerungsverein Stuttgart Helga Wieland dieses Jahr für ihre Aktivitäten rund ums Grün in der Stadt mit einem Sonderpreis in der Kategorie „Blühende Balkone und Hausgärten“ ausgezeichnet. Beim Garten, Friedhofs- und Forstamt sieht man die Aktivitäten der Pflanzenfreundin aber mit gemischten Gefühlen: Rechtlich sei zwar gegen eine Entnahme nichts einzuwenden. Wenn jemand dies unbedingt möchte, werde es im Einzelfall geduldet: „Aber eine Nachahmung ist tatsächlich nicht zu empfehlen.“ Die besondere Umgebung des Friedhofs sei zu beachten: „Dort sollten Konflikte vermieden werden.“ Und dies sei, wenn es viele Nachahmer gäbe, eben nicht ausgeschlossen. Konflikte könnten sich etwa um die Blumen selbst drehen. Außerdem sei es möglich, dass aus den Containern „gerettete“ Pflanzen anschließend doch noch im Gebüsch entsorgt werden; die Aufseher, so das Amt, könnten dies nicht noch zusätzlich kontrollieren. Helga Wieland kann die Haltung der Stadtverwaltung nicht nachvollziehen: „Ich glaube einfach, dass es noch mehr Menschen gibt wie mich, die Pflanzen wiederverwerten möchten. Und ich habe noch bei keinem Besuch auf dem Friedhof jemanden gesehen, der so etwas einfach ins Gebüsch wirft.“

Selbstversorgergarten in der DDR, nun ein Stückle

Der Wunsch, etwas für Pflanzen- und Tierschutz zu tun und die Freude am Gärtnern haben Helga Wieland durch ihr Leben begleitet. Mit 17 Jahren ist sie aus der DDR geflohen – aufgrund einer Einladung einer Leonberger Brieffreundin. Und gerade noch rechtzeitig, bevor die Grenze geschlossen wurde. In Stuttgart war die gelernte Industriekauffrau unter anderem viele Jahre lang als kaufmännische Angestellte in der Staatsgalerie und im Landesdenkmalamt tätig. Sie ist mit einem Selbstversorgergarten groß geworden: „Das hatte damals jeder. In der DDR gab es ja nichts.“ Helga Wieland werkelt auch gerne auf ihrem Stückle im Remstal. Dort ist es ihr sogar gelungen, selten gewordene Schmetterlinge anzusiedeln.

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Zu Hause im Westen pflegt sie täglich mindestens eine Stunde ihre grüne Oase hinterm Haus. Sie gießt, lockert Erde, düngt und schneidet Verblühtes ab. Damit die Wasserrechnung für die Mitbewohner in dem Mietshaus mit seinen insgesamt acht Parteien nicht belastet wird, hat sie eine große Regentonne angeschafft. Die Nachbarn, sagt die Hobbygärtnerin, freuen sich an den Pflanzen. Und die Insekten danken ihr, dass im Hinterhof übers Jahr immer etwas blüht: „Wenn am Vormittag die Sonne auf den Hof scheint: Sie glauben nicht, was dann hier los ist!“ Sonnenhut und Ziertabak seien besonders bei Hummeln beliebt. Zu Helga Wielands blühenden Schätzen gehören auch Christrosen und Azaleen, Akelei und Pfingstrosen, Storchschnabel und Rosen. Lieblingsblumen hat sie keine: „Was im Moment blüht, ist das Schönste. Im Winter sorgen immergrüne Gräser, eine kleine Kiefer und ein Lebensbaum für Grün im Hof.

Unliebsame Besucher mit vier Pfoten

Durch die von ihr so genannte „Eichhörnchenplage“ lässt sich die Hobbygärtnerin nicht unterkriegen: „Die Tiere durchwühlen die Töpfe nach vergrabenen Nüssen. Das ist sehr ärgerlich. Dann fehlt den Wurzeln der Erdkontakt, sie können kein Wasser mehr ziehen, und die Pflanzen gehen ein.“ So deckt Helga Wieland die Erde mit Gittern oder Draht ab. Sie kann nicht verstehen, dass manche Leute die Tiere das ganze Jahr über füttern: Das führe auch dazu, dass sich kaum noch Vögel wie Amseln, Meisen und Rotkehlchen im Hinterhof blicken lassen. Die flinken Kletterer räumten deren Nester aus.

Neben dem Gärtnern pflegt Helga Wieland noch viele andere Hobbies: „Zum Zeitunglesen komme ich immer erst nachts.“ Sie schreibt Leserbriefe, demonstriert zudem unermüdlich gegen das Projekt Stuttgart 21 oder besucht Kunstkurse, in denen sie das Drucken lernt. Ihre Lieblingstätigkeit bleibt aber doch die Arbeit mit Hacke und Gießkanne. „Ich bin mit Carl von Linné einig: ‚In den kleinsten Dingen zeigt die Natur die allergrößten Wunder.‘“, sagt Helga Wieland. Und wenn dann ein aus dem Müll geborgener Rittersporn mit ein bisschen Pflege dank ihres grünen Daumens wieder blaue Blüten zeigt: was könnte es für die Gärtnerin Schöneres geben.