Glaube, Liebe, Hoffnung: In Pleidelsheim zeigt sich, was Kirche kann. Wenn die richtigen Leute am richtigen Ort sind – wie die Pfarrerfamilie Hartmann.
Dass dieser Gottesdienst etwas Besonderes sein wird, ist gleich klar. Nicht nur, weil die Pfarrerin zur Begrüßung ruft „Herzlich Willkommen zu diesem Fest!“. Auch nicht nur, weil die Besucher sich zwischenrein über Blumen, Obst und Gemüse miteinander unterhalten. Und dass der Herr Pfarrer in Jeans und Turnschuhen hinten drin sitzt und lacht, weil ein Kind seufzt: „Die singen ja immer weiter“, ist nicht das, was diesen Gottesdienst so besonders macht. Das Besondere ist, dass er einer der letzten sein wird, den Tabea Hartmann hält. Die Pfarrerin wird Pleidelsheim verlassen. Und der Pfarrer auch. Und mit ihnen die fünf Kinder.
Ja und, mag man denken. Was soll’s? Jeder Pfarrer verlässt irgendwann seine Gemeinde und zieht weiter. Und wenn es eine Familie dazu gibt, zieht sie halt mit. Aber in Pleidelsheim ist das anders. Natürlich hat das damit zu tun, dass der Gottesdienst hier ein Fest ist, und dass die Leute in den Bänken miteinander plaudern, und dass der Herr Pfarrer lacht, wenn es einem Kind in der Kirche zu lang wird. Weil allein all das zeigt, wie Kirche auch sein kann. Und was sie kann. Wenn diese Familie Hartmann nun diese Gemeinde verlässt, um nach Peru zu ziehen, dann ist das mehr als ein Abschied von einer Pfarrerfamilie.
Würde an diesem Sonntagmorgen kurz vor halb elf jemand den Kopf durch die Tür strecken, der keine Ahnung hat, würde dieser jemand wahrscheinlich denken, er hat sich in der Adresse geirrt. Sitzen da doch Leute in der Kirche, die dem Nebensitzer von den Paprikapflänzchen erzählen, die sie selbst gezogen haben, oder von ihren Tomaten, die dieses Jahr hoffentlich vor der Braunfäule verschont bleiben, oder auch davon, dass Schnecken eine echte Plage sind. Aber da liegt kein Irrtum vor. So ist das halt in der Mauritiuskirche, wenn Erntebittgottesdienst ist und vorne eine Pfarrerin steht, die nicht viel hält von Frontalpredigt. Und eigentlich auch nicht vom Talar. An diesem Sonntag trägt sie ihn nur, weil auch eine Taufe auf dem Programm steht.
Der große Wandel in Pleidelsheim
„Was haben Sie ausgesät“, lautet also die Frage an das Publikum, das ins Schwätzen kommt. Und was natürlich trotzdem sehr gut in die Kirche passt. Man kann ja so viel mehr säen als Gurken oder Tomaten. Hoffnung zum Beispiel oder Gedanken oder auch Zwietracht. „Ich glaube, auch wer nicht die Finger oder Geräte in die Erde steckt, sät aus“, sagt Tabea Hartmann am Ende des Gemüseplauschs, der der Beginn für etwas Größeres ist.
Acht Jahre ist es her, dass Tabea und Samuel Hartmann nach Pleidelsheim gekommen sind. Dieser kleine Ort im Landkreis Ludwigsburg, der bekannt ist aus dem Verkehrsfunk und an die 6300 Einwohner hat, knapp ein Drittel davon evangelisch. Wer sich eine Vorstellung davon machen möchte, wie Kirche in Pleidelsheim damals war, kann Fotos aus dieser Zeit anschauen. Die Kirche – optisch angezählt. Das Tor zum Pfarrhof – zu. Die Fensterläden des Pfarrhauses – ebenso. Was sonst! Die Stelle war seit zwei Jahren vakant. Aber lag die Tristesse nur daran?
Zum sonntäglichen Gottesdienst gehörte die Orgelmusik so sicher wie das dreimalige Amen. Zu den wichtigsten Ingredienzen des Gemeindefests im Gemeindehaus zählte der Kartoffelsalat. Und das stärkste Argument, warum die fast baufällige Mauritiuskirche nicht saniert werden könnte, war: zu teuer.
Das waren keine Pleidelsheimer Spezialitäten. Das ist eher klassisches Kirchengemeindeleben. Zu dem auch gehört, dass sich in der Regel die üblichen Verdächtigen zusammenfinden, die zudem eher im fortgeschrittenen Alter sind. Und was genau das ist, was Tabea und Samuel Hartmann nie wollten.
Die beiden sind Anfang 30 als sie sich das erste Mal in Pleidelsheim umschauen. Beinahe wäre es das einzige Mal geblieben. Ob hier jemand Durst auf neuen Wein in neuen Schläuchen haben würde? Gäbe es hier Ohren für eine Botschaft, die nicht nur froh ist, sondern auch fröhlich? Ausgeschlossen, denkt sich das Pfarrerpaar – das schließlich doch zusagt. „Ihr werdet in Pleidelsheim Wunder erleben“, fühlt Tabea Hartmann Gott sagen.
Nach allem, was man hört, war das keine Einbildung.
Das Wasser, das an diesem Sonntag im Taufstein plätschert, stammt frisch aus dem Neckar. Es ist für ein Mädchen, von dem man erfährt, dass es eine gute Puppenmama ist, und einen Bub, der gerne durch die Lüfte fliegt. Wären die beiden älter und hätten Lust darauf, könnten sie sich direkt im Neckar taufen lassen. Hartmanns wären dabei. Waren sie auch schon, als diese Form der Taufe noch nicht von ganz oben abgesegnet war. Aber es ist ja auch besonders, wenn Eltern und Paten Täuflingen das Wasser übers Haupt schöpfen, nicht nur Pfarrers. Und dass nicht ein Theologe sagt „Ich taufe dich“, sondern eine ganze Gemeinschaft „Wir taufen dich!“ Nur nicht mehr in Pleidelsheim, wo der guten Puppenmama und dem kleinen Luftikus Applaus aus den Kirchenbänken entgegenschallt. Herzlich willkommen in dieser Gemeinde, in der so vieles anders wurde.
Gottesdienst für Frühaufsteher
Es gibt bald Gottesdienste für Frühaufsteher und solche speziell für Familien, dazu Gottesdienste mit Theater und mit Filmen. Zum Kirchenchor kommen ein Gospelchor und ein Kinderchor und ein Klassikensemble, das CDs aufnimmt und im Ort verteilt. Die Pfarrers erzählen in Kindergärten Geschichten aus der Bibel und laden schon Achtklässler ein zum Konfirmandenunterricht. Das Gemeindefest findet nun im Garten mit Boulebahn und Kaffeelounge statt. Und die (entrümpelte) Pfarrscheuer wird im Sommer zur Kulturscheuer mit Public Viewing, Lesungen oder Konzerten. „Die Leute sollten Lust haben zu kommen“, sagt Samuel Hartmann. „Wir durften ganz viel ausprobieren“, sagt Tabea Hartmann.
Und so wurde im Laufe der Jahre aus der kleinen Mauritiusgemeinde eine kleine Macht, von der der Bürgermeister Ralf Trettner sagt: „Die Kirche ist in eine andere Zeitrechnung gehoben worden.“
Von wegen, kann man da jetzt sagen. Und sehr wahrscheinlich tun das auch einige Pleidelsheimer. Weil die Pfarrers manches nicht ganz so wichtig nahmen. Einen Besuch zum 80. oder 90. Geburtstag zum Beispiel. Oder die persönliche Gratulation zu Goldenen Hochzeiten oder noch heiligeren Jubiläen. Von wegen also: Ein bisschen Musik und viel buntes Programm, fertig ist die Glaubenssache. So einfach ist das nicht mit dieser Kirche.
Wem ist geholfen, wenn Gottesdienste auch mal im Fitnessstudio oder in einem Wohnzimmer stattfinden? Was ändert sich, wenn der Pfarrer mit Flüchtlingen Fußball spielt? Wo liegt der Sinn, wenn die Pfarrerin ohne Talar predigt?
Und so einfach ist es ja wirklich nicht. In Pleidelsheim sinkt die Zahl der Gemeindemitglieder nicht langsamer als andernorts. Es gibt nicht weniger Austritte und nicht mehr Eintritte. Und dass die (renovierte) Kirche zu klein geworden sei, kann man auch nicht behaupten. Aber soll man es deshalb lassen?
Ist es nicht so, dass die Musik und die Feste stehen für Herzlichkeit und Lebensfreude? „Als Hartmanns kamen, hat sich alles geöffnet“, hört man mehr als einmal, wenn man sich unter den Pleidelsheimern Gottesdienstbesuchern umhört. Und der Fußball ist ja auch mehr als ein Kick. Den FC Doppelpass hat Samuel Hartmann 2015 gegründet, um Flüchtlingen einen Anker zuwerfen zu können. Und dass eine Pfarrerin ohne Talar gleich viel nahbarer wirkt, klingt auch einleuchtend.
Nähe und seelische Wärme
Ist es also nicht auch bezeichnend, dass zu den üblichen Verdächtigen nun auch viele gehören, die früher nicht verdächtig waren. Man zähle nur die viele Jüngeren, die jetzt in der Kirche aktiv sind. Und auch solche, die nicht üblich waren. Man nehme nur Sabine Hammer, die früher vor allem dann in die Kirche ging, wenn sie, die Floristin, frischen Blumenschmuck dekorierte. Inzwischen sitzt sie dem Kirchengemeinderat vor uns sagt Sätze wie: „Wir wollen spürbar machen, warum hier Menschen im Sinne von Jesus zusammen kommen: Nähe und seelische Wärme.“
Ist es nicht das, was für die Kirche zählt? Dass sie ein Ort ist, wo man gerne ist. Und wo man sein kann, wie man ist. Und kann so nicht Fortschritt entstehen?
Die Mauritiuskirche war in Corona unter den ersten, aus der Gottesdienste gestreamt wurden. Dank ihres jungen, viel beachteten Mediateams. Und nicht mehr lange, dann sollen dort auch homosexuelle Paare gesegnet werden. Zumindest, wenn es nach dem Kirchengemeinderat geht, der einstimmig einen entsprechenden Beschluss gefasst hat. Dessen Fortschritt lässt sich vor allem daran bemessen, dass der Dekan nichts Negatives dazu sagt. Vor nicht allzu langer Zeit fiel der Chef des hiesigen Kirchenbezirks, Ekkehard Graf, noch durch seine äußerst kritische Haltung bei diesem Thema auf. Heute hält er für bemerkenswerter, dass für Pleidelsheim eine Chorleiterstelle ausgeschrieben wird, für einen Gospelchor.
An diesem Sonntag werden Samuel und Tabea Hartmann im Gottesdienst verabschiedet. Und ihre Kinder Josua, Jael, Noa, Lois und Zoe ebenfalls. Im August beginnt der Sprachkurs in Costa Rica und im Oktober dann die neue Arbeit in Peru.
Mancher in Pleidelsheim ist ein bisschen verwundert: Dass diese beiden Seelsorger zu einer Zeit gehen, in der vieles angestoßen, aber bei Weitem nicht abgeschlossen ist, und in der es mehr Sorgen als Seelen zu geben scheint. Aber fast niemand versteht nicht, dass die Stelle in Lima so anziehend für diese Pfarrers ist: Ganz klein ist ihre neue Gemeinde, deutschsprachig und unter einer überwältigenden Anzahl von Katholiken fast bedeutungslos geworden. Das soll sich ändern. Und alle in Pleidelsheim, auch die, die die Gemeinde bald verlassen, vertrauen darauf, dass es hier wundervoll bleibt.
Wie war das: Man muss nicht die Finger in die Erde stecken, um etwas auszusäen.