Peter Gauweiler im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Foto: dpa

Wer die Geschichte des 20. Jahrhunderts kennt, kann nicht nur rechts oder links sein. Das sagt der ehemalige CSU-Politiker Peter Gauweiler. Ein Gespräch über den Kern des Konservativen, Heimat und Wühltische im Schlussverkauf.

Herr Gauweiler, sind Sie ein Rechter?
Ich habe mit dem Begriffspaar „rechts“ und „links“ jedenfalls keine Probleme. Die Frage ist, wie man es füllt. Sebastian Haffner hat geschrieben, der Unterschied von politisch rechts und politisch links entspreche dem von rechter und linker Hand: Die rechte Hand ist in der praktischen Tätigkeit gut, die linke hat die Aufgabe gegenzusteuern. Eine Wechselbeziehung. Es ist deshalb sehr wichtig, dass Dialoge zwischen den Positionen möglich bleiben. Thomas Mann hat über seine Kahnfahrten auf den Starnberger See so berichtet: Wenn das Boot nach rechts kippt, setzte ich mich nach links – und umgekehrt. So muss man es halten.
Gefällt es Ihnen besser, wenn Sie als Konservativer bezeichnet werden?
Sie können es ruhig rechts nennen. Wobei sich die öffentlichen Zuschreibungen verändern: Früher war man ein Linker, wenn man für einen Ausgleich mit Moskau eintrat – heute gilt man da wohl eher als rechts. In Kenntnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts kann niemand mehr nur rechts oder nur links sein.
Was ist denn der Kern des Konservativen?
Ordnung. Differenz. Distanz. Das scheinen mir die grundlegenden Merkmale konservativ-rechten Denkens zu sein. Wogegen ich gerade die Einebnung von Unterschieden eher als linkes Merkmal herausheben würde. Das kann man an der aktuellen Debatte über Einwanderung gut studieren. Während „links“ sicher weniger Probleme mit einer ungeregelten und in ihren Ausmaßen unbegrenzte Zuwanderung hätte, würde „rechts“ doch auf die – sagen wir – Einhaltung der Hausordnung pochen. Die linke Argumentation würde die Willkommenskultur preisen, die rechte fände die Figur des Hausmeisters wichtiger. Man muss das übrigens nicht zum unversöhnlichen Gegensatz überhöhen. Es kann auch eine sinnvolle Ergänzung sein.
Offenkundig ist dem rechten politischen Spektrum der Begriff Nation sehr wichtig.
Bei der Nation kommt man mit dem Rechts-Links-Schema gar nicht so weit. Nur ein Hinweis: Die Nationalbewegung von 1848 hat sich als linke Bewegung verstanden. Nach heutiger Lesart würde man diejenigen, die damals gegen das Aufgehen in einer Nation plädierten, als Rechte bezeichnen. Ein modernes Beispiel: Die schottischen Nationalisten sind im britischen Parteienspektrum eine linke Bewegung.
Wie ist Ihr Verhältnis zum Begriff Nation?
Deutschland ist für jemanden wie mich wie Vater und Mutter. Patriotismus kommt von „parentes“, die Eltern und „patria“ heißt übersetzt Vaterland. Das ist eine Bindung, die wir haben, und der wir nicht entkommen können. Wir können sie bewusst ablehnen oder sie annehmen – aber irgendeine Haltung dazu müssen wir eben einnehmen. Aber ehrlich gesagt würde ich viel lieber in einem noch unabhängigeren Bayern leben. Ich finde es ärgerlich und undemokratisch, dass wir auf so vielen Ebenen tun müssen, was uns in Berlin oder Brüssel vorgeschrieben wird.
Aber ist das Denken in nationalen Bezügen nicht veraltet, weil viele Aufgaben – von Sicherheit bis Ökonomie – nur noch in übernationalem Rahmen angegangen werden können?
Glaube ich nicht! Zunächst sollte jeder sich nicht bei allen anderen einmischen, sondern vor der eigenen Tür kehren. Ist das wirklich nur eine konservative Überzeugung? Oder ist sie im Zeitalter der Globalisierung wichtiger denn je, denn in einer entgrenzten Welt kommt es eben auf das Funktionieren von Heimat an – weil sie die globalisierte Existenz verankert und in die Balance bringt. Je kleiner der Raum, umso mehr ist das konkrete Mitgestalten, das Erleben und Erzeugen von Solidarität erfahrbar. Zu glauben, dass die Strukturen immer supranationaler werden müssen, dieses ganze Gerede von immer riesigeren Einheiten, von einer Weltregierung – das macht uns zu Ameisenmenschen. Das bessere Ziel im 21. Jahrhundert, wenn es demokratisch gestaltbar bleiben soll, wären kleine, überschaubare Einheiten in einer globalen Welt. Friedrich Dürrenmatt nannte das so: „Die Welt muss entweder untergehen oder verschweizern.“
Heimat – auch so ein konservativer Zentralbegriff. Aber auch da gilt doch: Die Menschen werden immer mobiler. Heimat verliert an Bedeutung.
Heimat ist nicht allein konservativ zu verorten. In der Liebe zur Heimat drückt sich die Freiheit aus, positiv zu sich selbst zu stehen. Heimat und Herkunft verweisen auf unseren Ursprung, auf das, woraus sich eine Biografie entwickelt hat. Dazu zu stehen ist eine Form menschlicher Unabhängigkeit. Es gibt Dinge, denen Sie nicht entkommen können. Ein Beispiel: Ich bin 1949 geboren, habe in der 68er-Zeit studiert. Damals dachte man, dass Begriffe wie Familie, Heimat oder auch Staatlichkeit völlig überholt sind. Aber sie kommen mit Macht zurück – nicht als Weltanschauung, sondern als humane Notwendigkeit. Warum? Weil sie im Kern eine Schutzfunktion ausüben. Das Wort „Bürger“ drückt das gut aus. Der Bürger war derjenige, der im Schutz der Burg lebte. Weil er sich anders als der Adel und der Klerus noch keine eigene Sicherheit leisten konnte, brauchte er den Schutz der mauerbewehrten Stadt. Ist das rechts? Es ist eher eine Art menschlicher Grundkonstante. Aber vielleicht weisen Rechte entschiedener auf diese Konstante hin.
Ist die Begegnung mit Fremden für Linke leichter, weil der Internationalismus zum genetischen Code des Linksseins gehört?
Da bin ich mir nicht so sicher. Das links regierte Frankreich hat gerade erklärt, über die zugesagten 30 000 Flüchtlinge keine weiteren Kontingente aufnehmen zu wollen. Das ist weniger, als der Regierungsbezirk Oberbayern. So viel zum linken Internationalismus. Ich finde, wer es ernst meint mit den konservativen Grundätzen Ordnung, Differenz, Distanz, tut sich in der Begegnung mit anderen Kulturen leichter. Weil man die kulturellen Unterschiede als Wert anerkennt und nicht einebnen will.
Ordnung – das ist klar. Differenz ist die Anerkennung von Individualität. Aber was meinen Sie mit Distanz?
Zum Beispiel, dass wir uns mit „Sie“ anreden, den Respekt wahren. Und dass wir Distanz wahren und uns nicht anbiedern. Privatheit respektieren. Schon umgangssprachlich gilt die Feststellung „Der kann nicht Abstand halten“ eben nicht als Kompliment.
Zum Schluss: Ist der letzte Antrieb des Konservativen, sich durch feste Wurzeln sturmfest gegen die Wirren der Welt zu machen?
Ja, unsereiner glaubt eben nicht, dass die menschliche Gesellschaft in ihrem Zusammenleben wie in einer Bahnhofshalle gestaltet sein soll. „Ja“ zum gemeinsamen Haus – aber mit vielen unterschiedlichen Wohnungen, deren Türen man öffnen und wieder schließen kann. Um ein anderes Bild zu bemühen: kein Wühltisch im Schlussverkauf.