Weil die Mitarbeiter im Finanzamt nicht mit der Bearbeitung nachkommen, haken sie Steuererklärungen öfter ungeprüft ab. Foto: dpa

Die Finanzbeamten im Land ersticken in Akten: Seit 2011 hat sich die Zahl der Steuererklärungen, die in den 65 Ämtern auf Halde liegen, verdoppelt. 500 zusätzliche Stellen sind geplant.

Die Finanzbeamten im Land ersticken in Akten: Seit 2011 hat sich die Zahl der Steuererklärungen, die in den 65 Ämtern auf Halde liegen, verdoppelt. 500 zusätzliche Stellen sind geplant.

Stuttgart - In vielen Finanzämtern im Land schlagen die Beamten Alarm. „Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist eins nach zwölf“, sagt ein Beamter, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Es muss jetzt etwas passieren.“

Seit einer Umstellung der Computersoftware 2011 ist die Zahl der unbearbeiteten Fälle in den 65 Finanzämtern im Land extrem gestiegen. Vor der Einführung der Software lagen in den Ämtern nach Angaben der Steuergewerkschaft rund 200 000 Akten auf Halde. Diese Zahl stieg in Hochzeiten auf über 600 000 Fälle an. Bis Ende 2013 haben die Beamten die Altlasten auf rund 400 000 Fälle reduziert.

Das war jedoch nur mit Qualitätsabstrichen möglich: „Um die Fälle abzuarbeiten, gab es vermehrt ‚grüne Wochen‘“, sagt Thomas Eigenthaler, Chef der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, den Stuttgarter Nachrichten. Grüne Woche nennen die Beamten intern die Zeiten, in denen die Finanzämter Steuererklärungen ungeprüft abhaken. „Aus Wochen können auch Monate werden“, sagt Klaus Becht, Vorsitzender des baden-württembergischen Landesverbands der Deutschen Steuergewerkschaft.

Anders jedoch sei die Flut an Altlasten nicht zu bewältigen. Die Steuergewerkschaft klagt seit Jahren über Personalmangel. Das Land hat sich unter Lothar Späth von der bundesweiten Personalbedarfsberechnung verabschiedet. Dabei handelt es sich um eine Kommission, die ermittelt, wie viele Beamten in der Steuerverwaltung der Länder nötig sind. „Inzwischen liegen wir beim Personal rund 30 Prozent unter dem Bedarf“, sagt Becht. Die Landesregierung will gegensteuern. „Bei eingeschränkter Personalkapazität wird ein Finanzamt bisweilen bestimmte Fälle, die bei ausreichender Personalausstattung geprüft würden, nur eingeschränkt prüfen“, teilt eine Sprecherin des baden-württembergischen Finanzministeriums unserer Zeitung mit. Dem Ministerium sei dies bekannt, und auch die Landesregierung habe das Problem erkannt und werde daher in dieser Legislaturperiode insgesamt 500 neue Stellen in den Finanzämtern schaffen.

Im Land fallen jährlich 3,7 Millionen Einkommenssteuerfälle an

„350 dieser Stellen sind bereits etatisiert, die restlichen 150 werden im Haushalt 2015 folgen“, so die Sprecherin. 180 der Stellen sind für den Innendienst der Finanzämter vorgesehen; dort werden sie vor allem in den Einkommensteuerstellen zum Einsatz kommen. Außerdem will das Land sich wieder an der bundesweiten Personalbedarfsberechnung orientieren. „Das Ergebnis der Personalbedarfsberechnung soll als weitere Grundlage für die Personalverteilung zwischen den Finanzämtern in Baden-Württemberg herangezogen werden.“

Obwohl das Land gegensteuern will, hat Becht wenig Hoffnung, dass sich die Lage merklich entspannt. „Trotz der zusätzlichen Stellen, die Grün-Rot geschaffen hat beziehungsweise bis Ende 2015 schaffen wird, wird die Arbeitsbelastung für jeden einzelnen Bearbeiter aufgrund des Aufgabenzuwachses höher sein als vor 2011, also vor dem Zugang der zusätzlichen Stellen“, so Becht.

Neben immer noch bestehenden Kinderkrankheiten der neuen Software namens Konsens kommt auf die Beamten laut Steuergewerkschaft Mehrbelastung durch die Einführung der elektronischen Steuerkarte und der neuen Rentenbezugsermittlungen zu. „Auch die Selbstanzeigen erledigen sich leider nicht von selbst“, sagt Becht. „Durchschnittlich müssen pro Selbstanzeige über zehn Bescheide erstellt werden, bei über 17 000 Selbstanzeigen dürften dies mittlerweile über 200 000 Bescheide sein, mit Folgearbeit für den Erhebungsbereich und die Rechtsbehelfsstellen.“

Über die „grünen Wochen“ äußern sich die Ämter nicht offiziell. Hinter den Kulissen aber regt sich Unmut, weil das schnelle Durchwinken der Fälle dem Sorgfaltsanspruch der Mitarbeiter zuwiderläuft. „Man kann bei uns eben nur messen, wie viel Fälle wir geschafft haben, und nicht, in welcher Qualität“, sagt ein Beamter. Insgesamt bearbeiten die 65 Ämter im Land über 3,7 Millionen Einkommensteuerfälle im Jahr. „Wenn nicht sorgfältig geprüft werden kann, geht das zulasten der Steuergerechtigkeit“, sagt Markus Scholl, stellvertretender Landesvorsitzender der Deutschen Steuergewerkschaft. „Denn die ‚grünen Wochen‘ haben zur Folge, dass man unterschiedliche Steuerbescheide erhalten würde, je nachdem wann man wo seine Steuererklärung einreicht.“

Auch Thomas Eigenthaler kritisiert die Praxis: „Das Land riskiert dadurch Steuerausfälle.“ Um dieses Risiko zu minimieren, arbeiten die Bundesländer daran, den Anteil der maschinell erstellten Fälle zu erhöhen. Die Oberfinanzdirektion Karlsruhe hat als Aufsichtsbehörde der Finanzämter im Land eine Arbeitsgruppe Qualitätsmanagement ins Leben gerufen. In diesem Jahr wird in den drei Ämtern in Leonberg, Bruchsal und Lahr ein sogenanntes Vier-Stufen-Verfahren erprobt. Dies soll ermöglichen, dass die Beamten leichte Fälle schneller vom Tisch bekommen und sich stärker auf risikoträchtige Fälle konzentrieren können.